Welche Begleiterkrankungen können eine zugrundeliegende ADHS verdecken bzw. maskieren? Welche Rolle spielen die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte im Verlauf der Erkrankung? Wie sieht der Goldstandard in der Therapie aus? Und warum ist ein ADHS-Ausweis sinnvoll? Antworten auf diese Fragen hat Dr. med. Wolfgang Kömen aus Essen.

ADHS und Komorbiditäten: Welche gibt es, was ist zu beachten?

Wolfgang Kömen: Wir unterscheiden zum einen die bereits seit Jahren beschriebenen psychischen Komorbiditäten, z. B. eine Angststörung oder Depression (Tab. 1) [1], Entwicklungsstörungen, z. B. SEV (auch Late-Talker), Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) oder Dyskalkulie etc. (Tab. 2) [2] und somatische Komorbiditäten, die erst in letzter Zeit in den Fokus der Forschung gerückt sind. Dazu gehören die allen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzten bekannten Krankheiten wie Adipositas, Allergien, Asthma, atopische Dermatitis, Migräne, Epilepsie, um nur einige zu nennen (Tab. 3).

Viele Patientinnen und Patienten schildern vordergründig Symptome dieser Begleiterkrankung bei ihrer Ärztin oder ihrem Arzt, die zugrundeliegende ADHS wird also durch die Begleitsymptomatik zunächst maskiert. Für Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte ist es deshalb wichtig, bei vielen Störungen daran zu denken, vor allem, wenn man mit der üblichen Therapie keinen anhaltenden Erfolg hat.

Wenn also bei einer Depression oder Angststörung die Symptomatik trotz Psychotherapie und ggf. einer medikamentösen Therapie durch eine Kinder- und Jugendpsychiaterin oder einen -psychiater nicht deutlich besser wird oder sogar eine Verschlechterung, z. B. eine deutliche Gewichtszunahme auftritt, sollte man an ADHS denken und den Verdacht aussprechen. Oder wenn trotz Ergotherapie und Logopädie nach einem Jahr die Entwicklungsstörung immer noch besteht oder aus der Dyslalie und Störung der Feinmotorik eine LRS oder Dyskalkulie entstanden ist und Patientin bzw. Patient und Familie frustriert sind. Aber auch, wenn wir Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte eine somatische Erkrankung behandeln, z. B. ein Asthma bronchiale, und eine leitliniengerechte Therapie nicht zum Erfolg führt oder zusätzliche Probleme auftreten, z. B. ein Leistungsabfall in der Schule oder wenn die Patientin/der Patient nicht mehr am Sportunterricht teilnehmen will, sollten wir daran denken und nicht alles auf das Asthma schieben oder auf mögliche Coping-Probleme wegen der chronischen Erkrankung.

Als pädiatrischer Diabetologe habe ich viele Patientinnen und Patienten, deren Stoffwechseleinstellung trotz multipler Diabetesschulungen und häufiger und langer stationärer Aufenthalte nicht besser wurde, auf ADHS untersucht und ohne Änderung der Insulineinstellung, lediglich durch eine effektive ADHS-Behandlung, eine deutliche Besserung des HbA1c-Wertes erzielt.

Wie identifiziert man eine maskierte ADHS?

Das Wichtigste ist: daran denken! Mit ein paar einfachen Fragen zum Schulalltag und zum Verhalten außerhalb der Schule, in der Familie und im Verein, was z. B. nervt oder besser laufen könnte, bekommt man schon wichtige Hinweise. Ich gebe auch gerne den Tipp, sich das Zeugnis der ersten Klasse oder einen Bericht aus der Kindergartenzeit zeigen zu lassen. In aller Regel finden sich dort Hinweise, die zur weiteren Diagnostik führen sollten. Ich empfehle meine Kolleginnen und Kollegen auch, die Familienanamnese zu erheben: Meist finden sich auch dort Auffälligkeiten wie: "Ich war als Kind auch so", "In der Pubertät war ich echt schwierig", "Die Oma ist stark depressiv" oder "Der Opa ist Alkoholiker und starker Raucher". Denn ADHS ist zu über 80 % genetisch bedingt, in aller Regel sind also weitere Familienangehörige betroffen.

Als nächsten Schritt sollte man den Eltern einen Screening-Fragebogen mitgeben (z. B. den SDQ-Fragebogen – in allen Sprachen kostenlos unter www.sdqinfo.org oder den Screening-Fragebogen aus dem DISYPS-III, Hogrefe-Verlag) und einen Termin zu einem vertiefenden Gespräch anbieten. Als Kinder- und Jugendärztin oder -arzt sollte man auf jeden Fall eine feste Strategie haben, wie man bei einem Verdacht auf ADHS vorgeht, ob man also die Diagnostik selbst durchführt oder sie an eine Kollegin oder einen Kollegen delegiert. Der Esser-Fragebogen im Rahmen der U10/U11 enthält ebenfalls viele Fragen, die auf ADHS hinweisen und dient somit unbewusst aktuell als Screening auf ADHS – im Alter von 7 – 8 Jahren aus meiner Sicht sehr sinnvoll. Bei den in den Tabellen genannten chronischen Störungen empfehle ich dringend ein Screening auf ADHS.

Wie ist der Verlauf einer ADHS und welche Rolle nimmt die Kinder- und Jugendärztin bzw. der Kinder- und Jugendarzt ein?

ADHS ist eine chronische Erkrankung [3], sie persistiert meist ins Erwachsenenalter, wobei der Verlauf durchaus fluktuiert, d. h. die Symptomatik ist in gewissen Entwicklungsstufen, z. B. der Pubertät, oder auch im späteren Leben in Krisenzeiten mal stärker, mal weniger stark ausgeprägt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch der Begriff der "subtreshold disease". Das heißt, ADHS-Symptome sind zwar vorhanden, die diagnostische Schwelle wird aber laut Leitlinien noch nicht überschritten [4]. Kommt in einem solchen Fall aber eine chronische somatische Störung dazu, z. B. die Manifestation eines Diabetes mellitus Typ 1 oder bricht in der Familie eine wichtige Ressource weg, tritt die ADHS-Symptomatik verstärkt zutage, und es ergibt sich möglicherweise die Indikation zu einer medikamentösen Therapie.

Ein großes Problem bei ADHS ist – wie bei vielen chronischen Erkrankungen – die Adhärenz. Die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sind oft sehr nah an der Familie dran und überblicken das gesamte Umfeld, sie sind in aller Regel auch kurzfristig erreichbar und sehen die Patientinnen und Patienten immer wieder. Ihre Aufgabe ist es, beim Arzt-Patienten-Kontakt nachzufragen, wie es läuft: in der Schule und im Verein, ob die Therapie noch wahrgenommen wird und effektiv ist. Bei einer negativen oder abweisenden Rückmeldung sollte Zeit darauf verwendet werden, mittels "motivierender Gesprächsführung" (nach Miller und Rollnik, [5]) der Patientin oder dem Patienten den Weg zurück in eine wirksame Therapie zu erleichtern. Auch wenn eine ADHS einmal ausgeschlossen wurde oder eine Therapie beendet wurde, sind Verlaufskontrollen in kurzen zeitlichen Abständen, z. B. 3 – 6 Monate, dringend anzuraten. Wir Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sollten außerdem die Patientinnen und Patienten unbedingt bis ins Erwachsenenalter begleiten, um ein gelingende Transition aktiv mitzugestalten.

Gibt es neue Behandlungsansätze bei Kindern und Jugendlichen?

Der Goldstandard der ADHS-Therapie bleibt zum einen Psychoedukation und langfristige Begleitung sowie eine medikamentöse Therapie nach den AWMF-Leitlinien [6]. Die Entwicklung diesbezüglich geht immer mehr hin zu langwirksamen Medikamenten, die auch am Nachmittag noch wirksam sind und solchen ohne Missbrauchspotenzial.

Man erkennt aber immer mehr Faktoren, die den Verlauf einer ADHS als einer Hirnreifungsverzögerung positiv beeinflussen können, also auch präventiv wirksam sind oder als biologische Marker dienen können, um die Diagnose möglichst früh zu stellen. So spielen Ernährungsfaktoren, immunologische Prozesse und Stress bereits in der Schwangerschaft, aber auch in den ersten 1.000 Lebenstagen eine bedeutende Rolle [7].

Was ist der ADHS-Ausweis und welche Bedeutung hat er in der kinderärztlichen Praxis?

Der ADHS-Ausweis (www.adhs-ausweis.de oder www.adhspedia.de) ist ein Dokument, das Patientinnen und Patienten die medizinische Notwendigkeit der Einnahme und des Mitführens betäubungsmittelpflichtiger Arzneien, z. B. Psychostimulanzien (Methylphenidat u. a.), bescheinigt. Der Ausweis erfüllt die formalen Kriterien einer ärztlichen Bescheinigung und informiert über die aktuelle medikamentöse Einstellung der Patientin bzw. des Patienten. Er sollte von Ärztinnen und Ärzten, die ADHS behandeln, routinemäßig ausgestellt werden, um im Falle einer ärztlichen Vertretung eine Ersatzverschreibung durch mitbehandelnde Kolleginnen oder Kollegen, z. B. Kinder- und Jugendärztin oder -arzt, zu erleichtern. Auch wenn es in Deutschland für das Mitführen von betäubungsmittelpflichtigen Arzneimitteln keine Nachweispflicht gibt, kann es ratsam sein, bei polizeilichen Kontrollen, z. B. im Straßenverkehr, vor der zwangsweisen Durchführung einer Blutprobe den Ausweis vorzulegen.

Der ADHS-Ausweis
... ist ein Dokument, das die medizinische Notwendigkeit der Einnahme und des Mitführens betäubungsmittelpflichtiger Arzneien, z. B. Psychostimulanzien, bescheinigt. Zum Ausweis: www.adhs-ausweis.de oder www.adhspedia.de

Literatur
1.IpÇIM, IncI IzmIr SB, TÜrkÇapar MH, Özdel K, ArdiÇ ÜA et al. (2020) Psychiatric comorbidity in the subtypes of ADHD in children and adolescents with ADHD according to DSM-IV. Noro Psikiyatr Ars. 57 (4): 283289. doi: 10.29399/npa.24807
2. Kittel-Schneider S, Arteaga-Henriquez G, Vasquez AA, Asherson Ph, Banaschewski T et al. (2022) Non-mental diseases associated with ADHD across the lifespan: Fidgety Philipp and Pippi Longstocking at risk of multimorbidity? Neuroscience & Biobehavioral Reviews 132: 1157 – 1180. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2021.10.035
3. Sibley MH, Arnold LE, Swanson JM, Hechtman LT, Kennedy TM et al. ; MTA Cooperative Group (2022) Variable Patterns of Remission From ADHD in the Multimodal Treatment Study of ADHD. Am J Psychiatry. 179 (2): 142 – 151. doi: 10.1176/appi.ajp.2021.21010032
4. Franke B, Michelini G, Asherson Ph, Banaschewski T, Bilbow A et al. (2018) Live fast, die young? A review on the developmental trajectories of ADHD across the lifespan. European Neuropsychopharmacology 28 (10): 1059 – 1088. https://doi.org/10.1016/j.euroneuro.2018.08.001
5. Miller WR, Rollnick S (1991): Motivational interviewing: Preparing people to change addictive behavior. Guilford Press, New York
6. S3-Leitlinien ADHS; AWMF-Register-Nr. 028-045. https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-045
7. Kömen W (2022) ADHS und Ernährung: Ein relevanter Umweltfaktor, den die Patienten selbst steuern können. Pädiatrie 5: 1867 – 2132. https://doi.org/10.1007/s15014-022-4720-y


Korrespondenzadresse
Dr. med. Wolfgang Kömen

Praxis für Kinder- und Jugendmedizin
Neonatologe Diabetologe DDG
Psychosomatische Grundversorgung
Schloßstraße 174
45355 Essen
Tel.: 02 01/67 50 63
Fax: 02 01/67 50 68
E-Mail: mail@kinderarzt-borbeck.de

Interessenkonflikt
Der Autor gibt an, dass er Vorträge für Takeda und Medice hält und auch Beratertätigkeit ausübt. Er gibt an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (6) Seite 390-392