Mit ungewöhnlich scharfen Tönen hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte beim traditionellen Herbstkongress in Bad Orb das Verhalten der Lebensmittelindustrie kritisiert.

Um die eigenen Geschäfte anzukurbeln, würden immer mehr Kindernahrungsmittel auf die gerade von Kindern favorisierte "Geschmacksrichtung Süß" getrimmt, kritisierte Kongressleiter Prof. Klaus-Michael Keller. Solange dies politisch weiter sanktioniert würde, hätten Ärzte "medizinisch wie präventiv keine Chance, dagegen etwas auszurichten." Die Folge: Nach den neuen Daten aus dem Robert Koch-Institut (KiGGS-Folgeerhebung Welle II, 2014 bis 2017) ist im Vergleich zur KiGGS-Basiserhebung (2003 bis 2006) die Adipositasrate bei Kindern aus sozialökonomisch schlechter gestellten Bevölkerungsschichten um das Vierfache angestiegen.

Dabei überlasse die Politik der Industrie weitgehend das Handlungsfeld. Die bisher rein "beratende und edukative demokratische Haltung der Bundesregierung war nicht zielführend", stellte Kongresspräsident Keller ernüchternd fest. Auch BVKJ-Präsident Thomas Fischbach stellt der Politik ein ganz schlechtes Zeugnis aus. Das ist verständlich, sind es doch die Ärzte, die diese Adipositas-Epidemie täglich in ihren Praxen ausbaden müssen. Dagegen hat der BVKJ nun einen nationalen Aktionsplan gefordert. Darin fordert er konkret

  • die Einführung einer Zuckersteuer und eine Ampelkennzeichnung bei Lebensmitteln,
  • eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten und Schulen nach einem einheitlichen Ernährungsstandard,
  • eine Werbeverbot ungesunder Lebensmittel für die Zielgruppe "Kind", und
  • die klare Kennzeichnung zu fetter, zu salziger und zu süßer Produkte im Supermarkt.

So weit will die Bundesregierung aber nun mit ihrer "Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salze in Fertigprodukten" bei weitem nicht gehen. Fertigprodukte sollen künftig lediglich weniger Dickmacher enthalten. Und der Zuckergehalt in Softdrinks oder Cornflakes soll bis 2025 zweistellig sinken. Gesetzlich vorgegebenen Regelungen soll es aber erst mal nicht geben. Doch gerade gesetzliche Verbote verfehlen nicht ihre Wirkung, wie das Rauchverbot oder die Alkopops-Steuer zeigt. Nachdem die Schnapsmischgetränke mit einer Sondersteuer belegt wurden, sank laut Fischbach deren Absatz um 80 %. Seit der Einführung von "Zucker-Abgaben" seien zum Beispiel auch in Großbritannien, Frankreich oder Finnland die Absatzzahlen an Süßgetränken durch dieses Steuer deutlich zurückgegangen. Fischbach: "Durch die höheren Preise ist den Verbrauchern dort die Lust aufs Süßes weitgehend vergangen."

Kommentar:

Es kommt nicht so häufig vor, dass Pädiater einmal solch scharfe Geschütze auffahren. Denn natürlich stimmt es, dass weder Kinder noch deren Eltern heute noch in der Lage sind, den Etikettenschwindel, den die Lebensmittelindustrie mit ihrer intransparenten Informationsmaschinerie betreibt, zu durchschauen.

Auf die eindeutigen Forderungen der Pädiater will sich die Ministerin aber nicht einlassen. Dabei wäre das längst überfällig. Es reicht bei weitem nicht aus, weitgehend auf Freiwilligkeit zu setzen, von Sanktionen abzusehen und das alles über 7 Jahre zu strecken. Da ist weit mehr möglich, sogar zwingend erforderlich. Denn was in anderen Ländern im Kampf gegen zu süße Kindernahrungsmitteln und gegen die dortige Lobby bereits gelungen ist, müsste doch auch bei uns allemal möglich sein!


Autor
Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (1) Seite 8