Dr. Stephan H. Nolte arbeitet seit fast 30 Jahren als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt in Marburg und ist Redaktionsmitglied der Kinderärztlichen Praxis. Wie erlebt er den Arbeitsalltag in den letzten Wochen? Was hat sich verändert?
Oft werde ich angefragt: Sie haben doch, wie alle Ärzte, jetzt sicherlich furchtbar viel zu tun? Nein, es ist genau anders. Viele Termine werden vorsichtshalber abgesagt oder - noch schlimmer - ohne Absage nicht wahrgenommen. Viele Praxen haben Kurzarbeit angemeldet und wissen nicht, wie sie ihr Personal bezahlen sollen. Denn viele Routinetermine fallen weg, die sonst gut und nachhaltig gefüllten Terminkalender dünnen sich aus. Wir müssen ja schon immer schauen, dass wir zu tun haben, können ja nicht rumsitzen und Däumchen drehen und auf die nächste Epidemie warten.
Ständig rappelt das Praxistelefon
Das einzige, was ständig rappelt, ist das Telefon. Besorgte Eltern, viele, viele Fragen. Nichts, was man nicht den Medien entnehmen könnte, aber man will es auch vom Arzt nochmal hören. Vor allem, was den Schutz Dritter angeht: der kranken Oma im Hause, dem Opa mit seinen Blutdruckmedikamenten. Angst vor eigener Krankheit oder vor Erkrankung der Kinder steht gar nicht so im Vordergrund, auch wenn das Seuchenangst-Niveau, über Jahre geschürt, sehr hoch ist. Überhaupt stehen Gesundheitsängste in der Hierarchie der Ängste ganz an der Spitze.
Nur gelegentlich hört man aus dem Alltag: Die Familie, die mit drei kleinen Kindern auf 66 m2 im Hochhaus lebt, und von den Nachbarn angeschimpft wird, wenn sie nur mal auf den Flur geht. Parks und Spielplätze sind gesperrt. Wo geht man dann hin? Der Wald ist, im Gegensatz zu Frankreich, noch erlaubt, Städte im Grünen haben Glück. Zuhause werden die Kinder vor den diversen Bildschirmen geparkt, teils müssen sie, wegen der Hausaufgaben und dem Online-Unterricht, teils sollen sie, damit sie ruhiggestellt sind. Wir zwingen die Kinder genau in die virtuelle Welt, vor der wir sie immer bewahren sollten und wollten.
"Am schwierigsten ist derzeit, einigen Unbelehrbaren zu vermitteln, mit ihrem kranken Kind nicht sofort in die Praxis zu kommen"
Wir machen weiter, wie bisher, nur etwas gemächlicher. Die Anmeldung ist mit Glasscheiben versehen worden. Unterlagen werden durch einen Schlitz geschoben, die Karten selbst eingelesen. Die Hälfte der Sitzgelegenheiten im Wartezimmer ist weggefallen, damit mehr Abstand da ist. Alle Spielsachen und Bücher sind weggeräumt. Wartezeiten fallen kaum an, ansonsten werden die Eltern nochmal spazieren geschickt. So gut es geht, werden Vorsorge- und Impftermine wahrgenommen, im ersten Lebensjahr grundsätzlich, denn wir wissen alle nicht, wie lange es noch so weitergeht. Das sagen wir den Eltern auch am Telefon: Kommen Sie JETZT, denn jetzt funktioniert noch alles, Materialien, Impfstoffe und Medikamente sind vorhanden, wer weiß, was noch kommt. Inhaltlich spricht nichts gegen, aber vieles für Routineimpfungen im Zeichen von Corona. Das löst natürlich weiteren Gesprächsbedarf aus. Vielleicht wird ja unsere Praxis morgen schon wegen Corona geschlossen und in Quarantäne geschickt! Am schwierigsten ist derzeit, unseren ausländischen Mitbürgern und manchen Unbelehrbaren zu vermitteln, mit ihrem frisch kranken Kind nicht sofort in die Praxis zu kommen. Außerdem haben wir eine Art Autoschalter auf dem Parkdeck hinter unserer Praxis, wo notwendige Papiere und Unterlagen schnell abgegeben oder geholt werden können. Das war früher nur Eingeweihten, Laborfahrern und Lieferanten möglich, jetzt dürfen es alle.
Testungen - wo und wie?
Am unübersichtlichsten war es im Anfang. Als ich am 22. Februar Wochenenddienst in der pädiatrischen KV-Zentrale am hiesigen Klinikum hatte, war noch volle "Wintergrippenzeit", die Stationen voll, kein Bett zu haben. Glücklicherweise habe ich keines gebraucht. Eine Woche später, am 29. Februar., war es nicht besser. Kein Briefing seitens der Klinik oder des Gesundheitsamtes, keine Informationen. Testung? Ja, wo und wie denn? Verschiedene Modelle wurden ventiliert, zuerst in der Bereitschaftsdienstzentrale der Klinik, wobei die Wartenden vorher schnell noch ein Brötchen in der Bäckereifiliale im Klinikum oder eine Zeitung am Kiosk kauften, bevor sie dann in den „Hochsicherheitstrakt“ eintreten durften. Bis es zu einem Betretungsverbot der Klinik kam, bis zu regulären Testungen in einer außerhalb gelegenen Lokalität, letztlich einem Sportstadion, vergingen Wochen. Erst in der zweiten Märzwoche fingen Testungen überhaupt an, und dann auch nur für dringlich Verdächtigte oder Erkrankte. Rückkehrer aus Krisengebieten wurden daheim ruhiggestellt. Querschnitts-Untersuchungen? Fehlanzeige. Äußerste Restriktion in der Indikationsstellung, bis heute. Dabei wird die große Zahl der Testungen in Deutschland international hoch gelobt!
Hilfe von einer befreundeten Zahnarztpraxis
Was am schmerzlichsten fehlte, war Desinfektionsmittel, und über die üblichen Lieferanten nicht zu bekommen. Etwaige Spender vor den Praxen wurden beraubt, in der Praxis konnten wir für die Patienten, die sich reichlich bedienten, schon bald keines mehr vorhalten. Scheibenreiniger und Brennspiritus wurden in Erwägung gezogen. Eine befreundete Zahnarztpraxis versorgte uns liebenswürdigerweise mit Masken und Desinfektionsmittel, hier und da wurde aus verschiedenen Apotheken zusammengekratzt. Rechnungen, die für den Sprechstundenbedarf an die AOK geschickt wurden, wurden postwendend retourniert.
Die gute alte Seife ist ja aus hygienischen Gründen schon lange aus den Praxen verbannt, obwohl sie ihren Zweck gut erfüllt. Mein Vater hatte 1962 auf dem Höhepunkt der Kubakrise mehrere Kisten Fissan-Kinderseife eingekellert, die ich nach seinem Tod vor einigen Jahren in seinem Haus fand. Ich erinnerte mich, dass meine Eltern als eine der ärgsten Mängel im Krieg den an Seife erlebt und sich deswegen eingedeckt hatten. So musste die 58 Jahre alte, original verpackte Seife wieder her.
Rückkehr in die gewohnten Bahnen
Aber so schlimm kam dann alles doch nicht, und allmählich kehren wir in die gewohnten Bahnen zurück. Es gibt wieder Desinfektionsmittel und auch Schutzausrüstungen. Ob wir die jetzt noch brauchen? Manche kommen mit Mundschutz, manche ohne, wenn Eltern drauf bestehen, ziehe ich beim Untersuchen den Mundschutz an, sonst schaue ich mir Eltern und Kind aus der Entfernung an. Bekanntlich kann man eine Pneumonie besser durch die Beobachtung der Atmung beim entkleideten Oberkörper des Kindes diagnostizieren als durch eine Auskultation beim schreienden Kind.
Was leidet, ist die zwischenmenschliche Kultur
Ob wir selbst „schon durch“ sind, wissen wir nicht. Schön wär's! Ich vertraue auf meine durch viele Kontakte mit kranken Kindern geschulte Immunität. Immerhin habe ich in 30 Jahren Praxis noch keinen Tag infektbedingt fehlen müssen, es hat mich immer freitags abends erwischt und Montag war ich wieder fit…. Aufgrund des Alters bin ich ohnehin derjenige, der in meiner Praxis am gefährdetsten ist.
Was leidet, ist die zwischenmenschliche Kultur. Menschen wollen behandelt werden, das heißt, mit den Händen berührt werden. Das fängt beim Händedruck an und hört bei der Untersuchung noch lange nicht auf. Wir Ärzte haben ohnehin schon lange die Kunst des Hand-Anlegens anderen überlassen, den Osteopathen und Manualtherapeuten, deren Besuch heute für junge Eltern schon so Routine geworden ist, dass sie sich rechtfertigen müssen, wenn sie noch nicht beim Osteopathen waren.
Es wird sich einiges ändern, und wir werden es nicht mehr loswerden. Als die Flugzeugentführungen in den frühen 70er-Jahren Schule machten, begannen die Kontrollen an den Flughäfen, die uns durchleuchten, durch 9/11 wurden sie erheblich verschärft. Die allgemeine Kontroll- und Überwachungskultur, die uns die Chinesen so vorbildlich vorgemacht haben, wird noch selbstverständlicher werden und in eine Gesundheitsdiktatur münden, von der wir nicht mehr weit entfernt sind. Der Triumph der Medizin, vor fast 100 Jahren von dem französischen Dramaturgen Jules Romains in seinem Bühnenstück „Knock“ vorgezeichnet, ist unaufhaltsam.
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn