Lucie Adelsberger war Ärztin, Wissenschaftlerin und Chronistin von Auschwitz. 2020 ist ein Buch in der Reihe "Jüdische Miniaturen" erschienen, das ihr gewidmet ist. Ein Beitrag über ihr Leben und Werk von Kinderarzt Dr. Stephan H. Nolte.

Vor fast 90 Jahren erschien auf der Titelseite der Kinderärztlichen Praxis (Abb. 1) [1] ein Übersichtsartikel von Lucie Adelsberger (1895 – 1971), die zu diesem Zeitpunkt in der Serologischen Abteilung des Robert Koch-Instituts arbeitete und dort zusammen mit Hans Munter eine Beobachtungsstelle für Überempfindlichkeitsreaktionen leitete. Sie beschäftigten sich mit dem bis heute aktuellen und nach wie vor ungelösten Problem der Allergie im Kindesalter. So war Lucie Adelsberger im Vorkriegs-Berlin eine bekannte Allergologin, die neben ihrer Stelle beim RKI eine eigene Praxis führte.

Der Begriff "Allergie", geprägt von Clemens von Pirquet, war zu dem Zeitpunkt noch ziemlich neu. Zuvor sprach man eher von Dyskrasie oder Idiodyskrasie, um unklare Unverträglichkeitsreaktionen zu benennen. Die hereditäre Belastung der "Überempfindlichkeitserkrankung" war auch längst bekannt. Die Grundfragen, die sie stellt, nämlich "Liegt bei einer Symptomatologie wie etwa dem Säuglingsekzem überhaupt eine Allergie vor, und wenn ja, worauf?" ist bis heute eine Herausforderung. Epicutan- und Intracutanteste werden ebenso diskutiert wie die Frage, ob nicht sowohl bei dem allergischen Ereignis als auch bei der Testung oder Desensibilisierung auch eine Schreck- und Angstreaktion eine Rolle spielt. Die Ausschaltung des Antigens und die Desensibilisierung werden als Therapiemöglichkeiten genannt, die Beurteilung des Heilerfolgs sei wegen des variablen Spontanverlaufes schwierig.

Ein Jahr später, zum 31. 03. 1933, wurde Lucie Adelsberger wie alle anderen jüdischen Mitarbeiter am RKI entlassen, ein halbes Jahr später wurde ihr die Kassenzulassung entzogen. Dennoch publizierte sie fleißig weiter. Ab 1938 durfte sie als "Krankenbehandlerin" nur noch jüdische Bürger behandeln. Noch Ende 1938 hatte sie die Möglichkeit, in den USA zu arbeiten, kehrte aber zurück, wohl weil sie ihre kranke Mutter nicht im Stich lassen wollte. Auch andere Auswanderungsmöglichkeiten verstrichen. Sie musste mehrfach in "Judenhäuser" umziehen, die Mutter verstarb schließlich im jüdischen Altersheim am 30. 01. 1943. Am 17. 05. 1943 wurde Lucie Adelsberger nach Auschwitz transportiert, wo ihr die Häftlingsnummer 45171 eintätowiert wurde und sie als Ärztin arbeiten musste.". Diese Zeit mit all den grausamen Begleitumständen hat sie später beschrieben [2]. Sie überlebte – nicht nur eigene Erkrankungen, sondern auch den "Todesmarsch" von Auschwitz und die Zeit in einem Außenlager von Ravensbrück bis zur Befreiung am 02. 05. 1945. Anschließend kam sie über Prag nach Amsterdam. Dort schrieb sie einen im "Lancet" publizierten Artikel über die Bedingungen und Krankheiten in Auschwitz [3].

Später konnte sie in die USA emigrieren, dort ihre Qualifikationen mühsam neu erwerben, und 22 Jahre lang in der Krebsforschung arbeiten. Ihr Ziel waren Blutteste zur Früherkennung von Krebserkrankungen. Sie selbst litt unter den Folgen der nationalsozialistischen Entwürdigungen und der Lagerhaft und blieb gesundheitlich labil, arbeitete aber unverdrossen und reichte einige hochrangig publizierte Arbeiten ein [4]. Letztlich aber blieben ihr große Erfolge versagt, was sie in tiefe Depressionen stürzte. In einem Nachruf [5] heißt es, dass sie einer der ersten Krebsforscher gewesen sei, die verschiedene Krebsarten mit Virusinfektionen in Verbindung gebracht habe, ein heute hochaktuelles Thema. Sie starb, unverheiratet und ohne Nachkommen, mit 76 Jahren am 02. 11. 1971 an einem metastasierenden Mammakarzinom.

Nach Auschwitz publizierte sie nicht mehr über allergologische Themen, und sie kehrte auch nie wieder nach Deutschland zurück. Erst seit 2015 erinnert die Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin e. V. mit der jährlichen Verleihung einer Medaille an diese jüdische Ärztin und Wissenschaftlerin (Abb. 2).

Jetzt ist in der Reihe "Jüdische Miniaturen" als 265. Band ein Büchlein erschienen, welches Lucie Adelsberger gewidmet ist: Ärztin, Wissenschaftlerin und Chronistin von Auschwitz (Verlag Hentrich und Hentrich, Berlin Leipzig, 2020, Abb. 3). Es wurde geschrieben von Benjamin Kuntz, Berlin, unter Bezug auf die Vorarbeiten des jüngst verstorbenen Eduard Seidlers (1929-2020), Freiburg, der die Dokumentation jüdischer Kinderärzte 1933 – 1945 erarbeitete [6], ihrem lange vergriffenen, gleichfalls von Eduard Seidler 2005 neu herausgegebenen Tatsachenbericht über Auschwitz [7] und eigenen Recherchen [8]. Neben zahlreichen Fußnoten enthält es persönliche Dokumente und eine Bibliographie.

"Die Toten fordern eine andere Rache: Die Wahrheit über Auschwitz. Die Welt muss wissen, dass ein kleiner Funke des Hasses einen übermächtigen Brand entfachen kann, den keiner mehr einzudämmen vermag" [9].

Daher ist es wichtig, an unsere jüdischen Pädiater, an Lucie Adelsberger, ihr Schicksal, ihre Forschungen – und ihr Vergessen zu erinnern.


Literatur
1. Adelsberger L (1932) Zur Praxis der Allergie-Erkrankungen im Kindesalter. Kinderärztliche Praxis 3: 97 – 103
2. Adelsberger L (1956) Auschwitz: a doctors story (engl) bzw. Auschwitz, ein Tatsachenbericht. Lettner, Berlin
3. Adelsberger L (1946) Medical observations in Auschwitz concentration camp. Lancet 247 (6392): 317 – 119
4. Etwa drei Arbeiten in "Cancer Research", siehe Kuntz 2020
5. New York Times vom 4. 11. 1971: Dr. Lucie Adelsberger is dead: Linked virus to some Cancers.
6. Seidler E (Hrsg.) (2007) Jüdische Kinderärzte 1933 – 1945: Entrechtet – Geflohen – Ermordet. Karger, Basel
7. Lucie Adelsberger: Auschwitz. Ein Tatsachenbericht (2005) Eduard Seidler (Hrsg.) Bouvier Verlag, 2. Auflage
8. Kuntz B (2020) Lucie Adelsberger: Ärztin, Wissenschaftlerin und Chronistin von Auschwitz. Hentrich und Hentrich, Leipzig
9. Lucie Adelsberger: Auschwitz. Ein Tatsachenbericht (2005) Eduard Seidler (Hrsg.) Bouvier Verlag, 2. Auflage, S. 106



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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 188-189