Andreas Seidel, Sonja Schneider, Petra Anna Steinborn: Praxishandbuch Autismus. ICF-orientiertes Arbeiten: Beratung, Diagnostik und Unterstützungsplanung für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung. 1. Auflage 2021, 204 Seiten, BELTZ Juventa, ISBN 978-3-7799-6602-9; 24,95 Euro

„Die Anwendung der ICF allein ist noch keine Teilhabeplanung,“ schreiben die Autoren auf Seite 77 des hier vorliegenden Buches. Dies ist eigentlich der Leitsatz des Buches. Wir empfehlen, hinten im Buch mit der Lektüre der Fallbeispiele zu beginnen. Das setzt allerdings voraus, dass man die Grundlagen der ICF und Teilhabeorientierung bereits kennt.

Die Darstellung dieser Fallbeispiele ist sehr ausführlich. Die beschriebenen Kinder und deren Umfelder tauchen vor dem inneren Auge auf. Sofort denkt man an eigene Patienten und an die Notwendigkeit von Vernetzung und Interdisziplinarität. Insbesondere die Veränderungswünsche der Klienten selbst sind kleinschrittig und nachvollziehbar dargestellt. Ziele sind s.m.a.r.t. (spezifisch; messbar; attraktiv; realistisch; terminiert) und damit überprüfbar formuliert. Grafiken erleichtern das Verständnis und betonen außerdem, dass bei unseren Klienten bzw. Patienten nicht nur ein Bedarf, sondern auch Ressourcen vorhanden sind. Die grafischen Darstellungen verdeutlichen den Zusammenhang zwischen Körperfunktionen, Umweltfaktoren und Teilhabe. Sie zwingen den Leser, nicht in einem (defizitorientierten) Bereich stecken zu bleiben, sondern den Blick für Wechselwirkungen zu öffnen. Die Theorie zu den Fallbeispielen findet sich im Hauptteil.

Das ganze Buch ist ausgerichtet auf Interdisziplinarität und auf die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institu­tionen, die nach unterschiedlichen Sozialgesetzbüchern arbeiten (müssen). In der täglichen Erfahrung erweist sich das oft als babylonische Sprachverwirrung, in der Mediziner nicht mehr verstehen, was Teilhabefachdienste meinen und brauchen und umgekehrt. Mit dem verpflichtenden Einsatz der ICF als „gemeinsamer Sprache“ besteht die Möglichkeit, dass alle an einem Tisch sitzen und diese Sprache lernen. Das Buch zeigt auf, dass das mühsam ist und Zeit braucht. Wie kann das gelingen?

Ärzte und andere Berufsgruppen aus dem medizinischen System können beim Lesen lernen, dass es eine teilhabeorientierte Beratungspflicht im SGB IX (Eingliederungshilfe) gibt und was ein Teilhabeplan ist: Aus einem Gesamtplan der Eingliederungshilfe wird nämlich erst dann ein Teilhabeplan, wenn Beratende nach SGB IX andere Akteure hinzuziehen, die aus anderen Bereichen kommen. Erst so entsteht ein Plan auf Augenhöhe. Weil die ICF für die Eingliederungshilfe vorgeschrieben ist, muss die Sozialpädiatrie die ICF kennen, wenn sie Maßnahmen aus den Bereichen der Eingliederungs- und der Jugendhilfe initiieren will.

Das Buch ist keine leichte Abendlektüre. Aber Tabellen und Merksätze am Ende eines jeden Kapitels helfen bei der Orientierung. In diese Seiten gehören Lesezeichen oder Eselsohren.

Gut geeignet ist dieses Buch für alle, die zuvor ICF und Teilhabeplanung im Rahmen von Seminaren und Fortbildungen praktisch und nicht formalisiert gelernt haben. Ihnen hilft es zu erfahren, wie andere Institutionen mit dem Instrument der ICF umgehen, wozu sie verpflichtet sind und wie man die ICF im SGB-übergreifenden Dialog einsetzen kann, um teilhabeorientierte Ziele für Betroffene wirklich umsetzen zu können.



Autorinnen
Paula Viehweger (Dipl.-Sozialarbeiterin),
Dr. Ute Mendes (Ärztin), Berlin

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (2) Seite 143