Stefan Huster und Thorsten Kingreen (Hrsg.). 426 Seiten, 1. Auflage, 2021. C.H. Beck – Verlag, München. ISBN 978-3-406-76020-4; 149 Euro

"Demokratie und die offene Gesellschaft – das sind zwei Seiten einer Medaille" [1]. Diese von v. Kielmannsegg an Karl Popper orientierte und formulierte Definition ist mit der COVID-19-Pandemie ins Wanken geraten. Befürworter und Gegner zu Maßnahmen der Pandemie-Bekämpfung prallen aufeinander. Die Autoren heben hervor, dass Gegner von z. B. Impfkampagnen zu leichtfertig geächtet werden. Als Mitbürger verlieren sie damit sehr leicht ihre ihnen zustehenden demokratischen Rechte der freien Meinungsäußerung. Das 2021 erschienene Handbuch zum "Infektionsschutzgesetz" ist zum richtigen Zeitpunkt erschienen, da in unserer Demokratie über die letzten Jahrzehnte Herausforderungen, wie die der COVID-19-Pandemie bislang so noch nicht durchlebt wurden.

Die beiden Lehrstuhlinhaber, Stefan Huster, Bochum, und Thorsten Kingreen, Regensburg, haben 13 hochrangige Juristen aus Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien gewinnen können, ein umfassendes Handbuch zu dem brisanten Thema "Infektionsschutzgesetz" vorzulegen, welches als "Randgebiet" im Verwaltungsrecht von den Herausgebern beschrieben wird. Der an dieser Thematik interessierte Mediziner wird mit Begriffen vertraut gemacht, wie z. B. Gesundheitsrecht, Gefahrenabwehrrecht, Datenschutzrecht, Entschädigungsrecht, Umwelt- und öffentliches Wirtschaftsrecht etc..

Das vorliegende Handbuch ist ein Beispiel für präzise und gut lesbare Darstellungen zu den oben bereits erwähnten Rechtsgebieten.

Einleitend setzt sich Kingreen mit der "Historischen Entwicklung" und damit mit der historischen und sozialen sowie politischen Dimension von Infektionskrankheiten auseinander und weist darauf hin, dass moderne Informationsgesellschaften im 21. Jahrhundert Viren als "gefürchtete Parasiten" beschrieben und auch gefürchtet haben. Was wir heute als Infektionskrankheiten bezeichnen, wurde früher als Seuchen bezeichnet. Kingreen weist darauf hin, dass sich Infektionskrankheiten von allen anderen Krankheiten durch ihre soziale Dimension unterscheiden. Diese soziale Dimension hat ihre Bedeutung bei der Einschätzung von Übertragungswegen, z. B. der COVID-19-Viren, weshalb es zu Beginn der Pandemie großer Anstrengungen bedurfte, die Bürger unseres Landes, wie in allen Ländern der Welt auch, davon zu überzeugen, dass Nasen- und Mundschutz durch Tragen von Masken, wie auch regelmäßiges Händewaschen sowie Oberflächendesinfektionen unverzichtbar sind, die Infektionsketten und -wege zu unterbrechen. Hier sehen die Autoren keinen Eingriff in Persönlichkeitsrechte.

Geradezu ein Lehrstück ist die Darstellung von Seuchen in der Vergangenheit – Pocken, Cholera, Schweinegrippe etc. bis hin zur COVID-19-Pandemie. Der Autor beschreibt die Verdienste von Rudolf von Virchow, Louis Pasteur, Robert Koch und Max von Pettenkofer und erinnert an Lorenz von Stein (1815 – 1890; er prägte den Begriff der "Sozialen Demokratie") [2], der, "praktisch der einzige Verwaltungswissenschaftler seiner Zeit war, dem es gelang, die Entstehung eines öffentlichen Gesundheitswesens mit den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Zeit zu verknüpfen." Der Leser erfährt, welche Wissenschaftler welche Infektionserreger erstmals identifiziert und beschrieben haben. Kingreen belässt es nicht bei diesen Darstelllungen. Nun kommt der Jurist zu Wort, der u. a. ein Kapitel mit dem Thema "Rechtliche Bewältigung von Infektionskrankheiten" dem Leser ausführlich offeriert. Aber auch das von den Bundesländern zu verantwortende spezifische Krisenbewältigungsprogramm wird beschrieben, zur Diskussion gestellt und im Kontext zu den Verantwortlichkeiten des Bundes betrachtet und immer wieder auf das Grundgesetz verwiesen.

Huster wendet sich den Gesundheitsrechten zu und erläutert die "gesundheitsrechtlichen Steuerungsaufgaben" und die hierzu unverzichtbaren "Rechtsgrundlagen". Interessanterweise stellt er die ambulante ärztliche Versorgung bei Infektionskrankheiten an den Anfang seines Beitrages. Besteht Personalmangel bei der Bekämpfung dieser Krankheiten, kann z. B. durch Rechtsverordnung die Gruppe der Medizin studierenden Personen rekrutiert werden. Die Rahmenbedingungen der stationären Versorgung werden anschließend durchleuchtet. Es wäre wünschenswert, dass Entscheidungsträger sich das Kapitel "Triage als Rechtsproblem" zu Gemüte führen. Kritisch setzt sich Huster mit der z. T. unsäglichen Priorisierung von Personen auseinander, die z. B. Ansprüche auf eine Impfung anmelden, oder, weil schwer an COVID-19 erkrankt, intensivmedizinische Behandlung dringend benötigen würden, und warnt davor, dass es Schule macht, solche Personengruppen zu benachteiligen. Insbesondere die so genannten "Hoffnungslosen", die also bereits vor Auftreten einer z. B. COVID-19-Infektion mit einer schweren Erkrankung diagnostiziert waren, ihre Ansprüche auf Impfschutz verlieren könnten, stehen im Mittelpunkt seines juristischen Diskurses. Dies gilt z. B. auch für die "Verwendung des kalendarischen Alters" im Rahmen der Priorisierung, somit gerade auch für Senioren, die allein wegen solcher z. T. vordergründigen Begründungen Ansprüche auf nachhaltige Hilfen verlieren könnten. Huster betont nachdrücklich, dass "niemand gezwungen ist und gezwungen werden darf", durch ein Aussonderungsverfahren Chancen am Lebenserhalt zu verlieren. Auch darf nicht zugelassen werden, dass in einem Entscheidungsprozess der Tod auf konkrete Patienten mit besonderen bereits bestehenden Lebensrisiken "verteilt wird". Dieser Hinweis richtet sich auch an Ethikkommissionen, da der Lebensschutz nach der Verfassung höchste Priorität hat.

Das vorliegende Handbuch beschäftigt sich auch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zur Bekämpfung von Pandemien, wie sie im europäischen Ausland festgelegt oder noch intensiv diskutiert werden müssen. Dabei kommen Themen zur Sprache, die mit der EU, aber auch WHO und deren Aufgaben zusammenhängen.

Hat man die ersten Kapitel in diesem Handbuch gelesen, so meint man im besten Sinn des Wortes einen hervorragenden Kriminalroman zu lesen. Eigene Meinungen des Lesers werden in Frage gestellt, der Leser wird zum Nachdenken eingeladen, und wie bereits eingangs erwähnt, wird man aufgefordert, vorschnelle Entscheidungen zu hinterfragen und der Meinungsvielfalt zum Thema Infektionsschutz in einer stets fragilen Demokratie Raum zu geben. Die Bezüge zum Grundgesetz werden verständlich angesprochen und diskutiert. Hierbei wird die Meinungsfreiheit als hohes Rechtsgut definiert.

Dieses Handbuch ist gerade für Pädiater, Sozialpädiater, Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst und beim MDK wie auch in Gesundheits- und Sozialpolitik beim Bund und den Bundesländern, beim BMG, Robert Koch-Institut und bei der STIKO unverzichtbar, nicht weniger bei Journalisten, Moderatoren bei Funk und Fernsehen etc.. Auch Intensivmediziner sollten Einsicht nehmen können in dieses hervorragend edierte Handbuch, vor allem dann, wenn sie wie erlebt am Rand eigener Erschöpfung noch ihr bestes zum Lebenserhalt geben sollen.


Literatur
[1] Graf von Kielmansegg P (2021) Die Schließung der Demokratie. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17. Mai, S. 6
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Autor
Prof. em. Dr. med. Dr. h.c. Hubertus von Voss, München

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (5) Seite 194-195