Für seine Aufgabenvielfalt in der heutigen Zeit ist der Öffentliche Gesundheitsdienst nicht annähernd gewappnet. Warum und inwiefern nun insbesondere die Politik gefordert ist, erklärt Dr. Ulrike Horacek.

Der Titel ist bewusst doppeldeutig. Zunächst ist evident, dass derzeit die Arbeit des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) sehr stark öffentlich wahrgenommen wird. Und zwar so stark, dass der ÖGD plötzlich als systemrelevant gilt. Das ist schon deshalb so bemerkenswert, weil die Bedeutung des ÖGD und damit eben auch der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste (KJGD) aufgrund des verbreiteten massiven Stellenabbaus viele Jahre lang kontinuierlich ignoriert und immer spürbarer konterkariert worden ist.

Das Bundesgesundheitsministerium, die Einrichtungen innerhalb seines Geschäftsbereichs, hier vor allem das Robert Koch-Institut, die Landesministerien für Gesundheit und nicht zuletzt die Gesundheitsämter vor Ort sind jedoch nun mit unterschiedlichen Rollen und Aufgaben in den Umgang mit der COVID-19-Pandemie intensiv eingebunden worden. Sie stellen unterschiedliche Ebenen und Instanzen der Öffentlichen Gesundheit dar und repräsentieren somit die e i n e Seite des ÖGD in der Krise. Entscheidungsverantwortung, Verantwortung für Umsetzung, Kontrolle und Bewertung des Geschehens sind komplex abgebildet und stehen in engem Bezug zur Politik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Ein Entschluss auf Bundesebene sah am 25. 03. 2020 vor, pro 20.000 Einwohner mindestens ein Kontaktverfolgungsteam aus 5 Personen zum Einsatz bringen zu können; eine Forderung, die von der Realität in den Ämtern um Dimensionen entfernt war.

Viele Ämter sind höchst unzureichend ausgestattet

Das allgemeine öffentliche Interesse an der Ausstattung der Gesundheitsämter im Infektionsschutz war riesig. So gelang es einem medialen Investigativteam in Nordrhein-Westfalen, alle Kreisgesundheitsämter mit entsprechenden Fragen zu konfrontieren. Das Ergebnis – im März des Jahres 2020 – zeigte, dass sich 21 der 33 Ämter für die anstehenden Aufgaben im Infektionsschutz nicht annähernd ausreichend ausgestattet sahen. Norddeutscher und Westdeutscher Rundfunk führten eine ähnliche Abfrage in den Kommunen ihres Sendebereichs durch. Von 9 % erhielten sie keine Rückmeldung, ein knappes Viertel fühlte sich (noch?) hinreichend ausgestattet.

Vor dem Hintergrund einer generellen Ressourcenabschätzung und -planung erfolgte in der zweiten Aprilwoche eine offizielle Abfrage in allen Bundesländern. Mehr als die Hälfte der antwortenden Länder setzten zu diesem Zeitpunkt die Hälfte bis drei Viertel des gesamten Gesundheitsamtspersonals für Kontaktpersonennachverfolgung und Aufgaben im Meldewesen ein. Unterstützt wurden sie durch extern angeworbene und für diese Aufgabe eingesetzte Mitarbeiter – "Verwaltungshelfer" – in der Größenordnung von 60 bis 280. Diese Anzahl verteilt sich auf alle Gesundheitsämter des jeweiligen Bundeslands. In Thüringen waren zum Befragungszeitpunkt mehr Mitarbeiter für Kontaktpersonennachverfolgung und Meldewesen eingesetzt, als es dem dortigen Gesamtpersonalbestand im ÖGD entspricht.

Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass externe Unterstützungskräfte sehr gut und zeitaufwändig eingearbeitet und supervidiert werden müssen. Das trifft sowohl für rekrutierte Medizinstudierende wie auch für Verwaltungsfachpersonal zu, die eigentlich mit anderen Aufgaben aus der Kommunalverwaltung bedacht sind, nun jedoch zum Beispiel als Containment Scouts arbeiten.

Digitalisiertes Meldewesen steht jetzt im Fokus

Am 15. 05. 2020 wurde im Bundesrat der "Entwurf eines Zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite" erörtert. Es sieht eine finanzielle Unterstützung der 375 Gesundheitsämter in Deutschland vor. Vornehmlich soll dadurch die Digitalisierung vorangebracht werden; ohne Zweifel würde sich dies positiv auf das Meldewesen und die zeitnahe Verfügbarkeit qualitätsgesicherter Daten auswirken. Zugleich werden aber auch die Meldepflichten im Zusammenhang mit Covid-19 dahingehend erweitert, dass künftig auch Informationen zu genesenen Personen erwartet werden. Darüber hinaus soll jedes Testergebnis festgehalten werden, nicht nur, wenn es positiv ist.

Der Erkenntnisgewinn durch systematisch erfasste, flächendeckende Angaben ist ohne Frage unbestritten. Diese können in Zeiten niedriger Infektionsraten durchaus erfolgen. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, dass jede einzelne Eingabe – unter Berücksichtigung von sich überschneidenden Labormeldungen etc. – erfragt oder anderweitig recherchiert werden muss, ist absehbar, dass eine solche Erweiterung sehr schnell an Grenzen stößt, spätestens beim Eintreffen der zu erwartenden zweiten Infektionswelle. Daraus ergeben sich langfristig keine Erleichterungen für diejenigen, die in anderen Bereichen der öffentlichen Gesundheit in den kommunalen Gesundheitsämtern Dienst tun.

Sofern nicht schon vorher, wird spätestens dann der ÖGD in der Krise selbst zum ÖGD in der Krise.

KJGD kann seine eigentlichen Aufgaben nicht mehr erfüllen

Schon jetzt sind Aufgaben der kommunalen Gesundheitsfürsorge für Kinder und Jugendliche – auf diese will ich fokussieren – weitgehend weggefallen oder werden nur rudimentär erfüllt. Auch Tätigkeiten, die nicht nur als Selbstverwaltungsaufgaben zu gelten haben, sondern auch sogenannte "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" mit gesetzlicher Begründung fallen aus allfälligen Gründen einer anderen Prioritätensetzung zum Opfer. Gerade die Ärzte, Sozialmedizinische Assistentinnen und Medizinische Fachangestellte aus den Kinder- und Jugendgesundheitsdiensten sind sehr willkommene, einsatzfreudige und mit der Materie im Grundsatz vertraute Mitarbeiter, auf die man gerne zurückgreift und die sich dem in der Regel nicht widersetzen, wie es eben auch zumeist ihrer sozialpädiatrischen Grundhaltung entspricht.

Diese Vereinnahmung des aufgabenfremden Personals ist sinnvoll, pragmatisch und verständlich. Aber sie darf nicht dazu führen, dass die eigentlichen Aufgaben, für die Beschäftigte des KJGD ausgebildet und eingestellt wurden und für die sie eine spezielle Expertise haben, länger als "vorübergehend" unerfüllt bleiben. In der Krise und "nach" der Krise werden Kinder, Jugendliche und junge Familien jedoch mehr denn je orts- und zeitnahe kommunal erbrachte Hilfen und Unterstützung benötigen.

Die langsam und stufenweise wieder öffnenden Betreuungseinrichtungen und Schulen benötigen nicht nur infektiologischen Sachverstand zur Umsetzung angepasster, verschärfter Hygienekonzepte. Sie brauchen, so zeigen die Anfragen, betriebsmedizinische und auf die jeweilige Situation abgestellte fachliche Hilfe.

Bugwelle der Corona-Krise trifft viele Kinder

Die langdauernde Abstinenz von vorschulischer institutioneller Betreuung und schulischem Präsenzunterricht wird ihren Tribut fordern, zumal sie vergesellschaftet ist mit einem monatelangen Entzug altersentsprechender, für eine gesunde Entwicklung unabdingbar notwendiger Spiel-, Lern- und Freizeitkontakte. Und man wird nicht mehr dort ansetzen können, wo und wie man vor Corona gearbeitet hat. Die Bugwelle dieser Problematik wird absehbar vor der zweiten Infektionswelle alle Systeme der gesundheitlichen, psychosozialen, pädagogischen, unterstützenden Sorge für Kinder und Familien betreffen. Der KJGD hat hier unverzichtbare – und nicht delegierbare – gemeinwesenbezogene Verantwortung wahrzunehmen. Kommunale Gesundheitsfürsorge wird einen besonderen Stellenwert erhalten und ist, zumindest in den Bundesländern mit einer kommunalen Gesundheitsgesetzgebung zwingend auf die Leistungserbringung durch den KJGD angewiesen.

Werden Appelle helfen, einen schrittweisen Lockdown in die Normalität der KJGD-Arbeit zu befördern? Es dürfen keine neuen, absehbaren Krisenschauplätze in unseren Gemeinden, Kitas, Schulen und Sozialräumen entstehen. Der KJGD des ÖGD wird hier in neuer Weise im Sinne kommunaler Daseinsfürsorge gefragt sein. Folgende Herausforderungen sind zu erwarten:
  • Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen chronisch kranke Kinder im Schuljahr 2020/21 den "Regel"-Schulalltag mit Präsenzunterricht bestehen können, bedarf der schulärztlichen KJGD-Expertise.
  • Ob sozial benachteiligte Kinder, durch die monatelange kommunikativen Einschränkungen und nicht ausreichenden Entwicklungsanreizen besonders belastet, vielleicht länger – und kontinuierlicher – zunächst von einer Kitabetreuung profitieren und ggf. vom Schulbesuch zurückgestellt werden sollten, wäre eine weitere Problematik.
  • Ob Kinder – und ihre Sorgeberechtigten – Zugang zu psychosozialen Hilfen und Unterstützung, ggf. Therapie benötigen, und das Erforderliche voranzubringen, gehört auch zum Aufgabenspektrum des KJGD. Betroffene Familien sind hier gut aufgehoben, weil der KJGD mit den Möglichkeiten vor Ort vertraut ist. Genauso mit den Grenzen, sodass je nach Einschätzung beschleunigt werden oder eine Alternative zum Einsatz kommen kann.
  • Kinder und Jugendliche, die aufgrund der Situation anstehende Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen nicht in Anspruch genommen haben, kann der KJGD schnell identifizieren und ggf. zeitnah vor Besuch einer Gemeinschaftseinrichtung z. B. zusätzliche Masernimpftermine anbieten.
  • Wenn Kinder im Betreuungs- oder Schulalltag ihren Erziehern oder Lehrern Sorgen machen, steht mit dem KJGD ein kompetenter Absprechpartner zur Verfügung, der ggf. in das Versorgungssystem vermitteln kann.

Dies sind nur einige Beispiele aus dem Arbeitsalltag des KJGD, der sich wahrscheinlich nicht von seinem Spektrum her maßgeblich verändern wird, aber von der Dichte, Intensität – und Exklusivität – noch stärker gefordert sein wird.

Child Advocacy ist auf Dauer nur mit einem starken KJGD möglich

Mein Appell richtet sich an alle Leser, die sich in verschiedenen (sozialpädiatrischen) Versorgungsbereichen und unterschiedlichen institutionellen oder politischen Kontexten befinden, diesen Notwendigkeiten Rechnung tragen und den KJGD appellativ und aktiv zu unterstützen. Ein Leben "nach" der Krise und voraussichtlich mit dem Virus wird ganz besondere und neue Herausforderungen für alle mit sich bringen. Und Child Advocacy kann nur mit einem starken KJGD als Partner gelingen.

Ein ÖGD, der Kinder und Familien gerade jetzt aus dem Blick verliert und sein Instrument KJGD dauerhaft von seinen originären Aufgaben fernhält, würde so noch mehr in die Krise geraten – in eine anders geartete Krise kommunaler Unterversorgung. Dies hätte für Kinder und Familien, denen unsere sozialpädiatrische Sorge gilt, absehbar fatale und nachhaltige Folgen.

Deshalb ist nun insbesondere die Politik gefordert, der neu entdeckten Systemrelevanz des ÖGD und insbesondere auch des KJGD dahingehend gerecht zu werden, die Gesundheitsämter endlich strukturell und finanziell entsprechend auszustatten. Wie schon bei der Pflege werden der Applaus und die Anerkennung für die wertvolle Arbeit des ÖGD nicht ausreichen, gerade die von der Krise besonders belasteten Familien wieder mit aufzufangen. Deshalb muss die Politik nun handeln und ihren großen Worten nun auch große Taten folgen lassen, die auch dann noch Bestand haben sollten, wenn die Folgen der Corona-Pandemie nicht mehr ausschließlich unser Leben bestimmen.



Korrespondenzadresse
Dr. Ulrike Horacek
Ärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Öffentliches Gesundheitswesen; MPH
Vorstandsmitglied der DGSPJ

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (4) Seite 288-292