Erfahrungen mit dem Curriculum Entwicklungs- und Sozialpädiatrie für die kinder- und jugendärztliche Praxis in Brandenburg.

Das Curriculum Entwicklungs- und Sozialpädiatrie für die kinder- und jugendärztliche Praxis (CESP) in der aktuellen Fassung ist ein 40-stündiger Kurs, der seit dem 01. 01. 2015 als Qualifikationsnachweis für Vertragsärzte der Kinder- und Jugendmedizin gilt, um die weiterführende sozialpädiatrisch orientierte Versorgung (Gebührenordnungsposition 04356) abzurechnen. Der Kurs wurde durch die teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte gut bis sehr gut bewertet. Der folgende Text vermittelt einen Überblick über die Inhalte des CESP und soll bei der Entscheidung helfen, ob ein solcher Kurs sinnvoll ist.

Das Curriculum "Entwicklungs- und Sozialpädiatrie für die kinder- und jugendärztliche Praxis (CESP)" stellt ein 40-stündiges Ausbildungscurriculum für Fach- oder Assistenzärzte dar, um Fachkenntnisse in der Entwicklungs- und Sozialpädiatrie zu vertiefen. Das CESP wurde am 01. 04. 2014 durch die Bundesärztekammer als neues Curriculum aufgelegt. Inzwischen haben in Deutschland über 2.000 Ärzte das CESP in unterschiedlichen Sozialpädiatrischen Zentren in Zusammenarbeit mit Landesärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen absolviert.

Neben der Erweiterung des Fachwissens besteht seit dem 01. 01. 2015 für niedergelassene Kinderärzte mit einem kassenärztlichen Sitz und mit entsprechender Qualifikation die Möglichkeit, sozialpädiatrische Versorgung umfangreicher abzurechnen.

Wachsender Bedarf an sozialpädiatrischen Kenntnissen

In den vergangenen 20 Jahren hat der Bedarf an sozialpädiatrischer Versorgung deutlich zugenommen. Um diesem Bedarf gerecht zu werden und sozialpädiatrische Aufgaben in der Pädiatrie differenziert darzustellen, wurde von der Arbeitsgruppe "Interdisziplinäre verbändeübergreifende Arbeitsgruppe Entwicklungsdiagnostik (IVAN)" des BVKJ, der Deutschen Gesellschaft für Ambulante Allgemeine Pädiatrie (DGAAP) und der DGSPJ "ein Stufenkonzept der Behandlung von Entwicklungsauffälligkeiten in einem interaktiven Diagnostik-/Therapiemodell" (IVAN-1-Papier) entwickelt. Folgende Fragestellungen waren leitend: Welche sozialpädiatrischen Aufgaben können niedergelassene Kinder- und Jugendärzte in der Praxis übernehmen? Welche Qualifikation und welche Kenntnisse sind hierfür notwendig? Welche Patienten sollten in einem Sozialpädiatrischen Zentrum behandelt werden?

Entstehung des CESP

Das CESP wurde in Zusammenarbeit der DGSPJ und dem Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) erarbeitet. Zuvor wurde bereits seit Ende der 1980er Jahre ein vergleichbarer Kurs im SPZ Altötting und bei den jährlichen Herbst-Tagungen des BVKJ in Bad Orb sowie beim interdisziplinären Herbst-Seminar-Kongress für Entwicklungs- und Sozialpädiatrie in Brixen angeboten.

Inhalte des CESP

Das CESP umfasst insgesamt 4 Module, von denen 3 als theoretische Module (10 Einheiten von 45 Minuten) und ein Modul mit Praxisbezug (10 Einheiten von 60 Minuten). Infrage kommt es für diese Zielgruppen:
  • Niedergelassene Kinder- und Jugendärzte
  • Ärzte im Kinder-, Jugend- und Gesundheitsdienst
  • Ärzte aus interdisziplinären Frühförder- und Beratungsstellen
  • Ärzte im Rehabilitationswesen
  • Assistenzärzte in Kinderkliniken
  • Ärzte und Psychologen, die ihre Berufstätigkeit im SPZ aufnehmen
  • Fachärzte anderer Disziplinen, die Kinder mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen versorgen

Modul I: "Das sozialpädiatrische Instrumentarium" (10 h)

Im ersten Modul lernen die Teilnehmer den "Werkzeugkoffer der Sozialpädiatrie" kennen. Die Variabilität der physiologischen Entwicklung des Kindesalters (Was ist denn überhaupt normal, und ab wann spreche ich von Auffälligkeiten?) sowie die verschiedenen Methoden zur Beurteilung von Entwicklung werden erläutert. Hierzu gehört z. B. die Vermittlung von Kenntnissen standardisierter Testdiagnostik und deren Interpretation. Das 3-Stufen-Konzept (nach "IVAN 1") sieht eine gestaffelte Diagnostik bestehend aus Screening, Basisdiagnostik und Mehrbereichsdiagnostik vor und definiert, welche medizinischen Versorger (Kinder- und Jugendarzt, SPZ oder andere geeignete Institutionen) vorrangig zuständig sind. Förderung und Therapie werden im Kontext der Behandlungsplanung insgesamt benannt. Psychosoziale Kontextfaktoren, Inklusion und Migration sowie transkulturelle Pädiatrie werden als wichtige Aspekte in der Sozialpädiatrie erläutert.

Modul II: "Erstes Fachmodul" (10 h)

Dieses Modul beinhaltet vertiefend das diagnostische und therapeutische sozialpädiatrische Vorgehen. Störungen von Kognition und Intelligenz, Motorik, Sprachentwicklung, Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten wie Legasthenie und Dyskalkulie werden referiert. Die besonderen Behandlungsaspekte bei Kindern und Jugendlichen mit chronisch-somatischen Erkrankungen sowie die Aufgaben und die Tätigkeit des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) mit wichtiger Komplementärfunktion zur allgemeinpädiatrischen Versorgung, werden erläutert.

Modul III: "Zweites Fachmodul" (10 h)

Schwerpunkte dieses Moduls sind Aspekte der seelischen Gesundheit und Entwicklung sowie des Sozialverhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Dabei spielt der Kontext Familie eine zentrale Rolle, insbesondere in Bezug auf die Umsetzung von Interventionen.

Die Teilnehmer werden dahingehend geschult, familiäre Krisen- und Belastungssituationen im sozialpädiatrischen Kontext zu erfragen, passgenaue Behandlungsangebote zu erarbeiten sowie konkrete Hilfestellungen anzubieten. Die sozial-emotionale Entwicklung (z. B. Bindung, Regulation) und ihre Störungen werden dargestellt sowie sozialpädiatrische Aspekte des Jugendalters erklärt. Mögliche Vorgehensweisen bei einzelnen Diagnosen werden an Krankheitsbildern, wie z. B. ADHS, Epilepsie, Autismus, erläutert. Auf die Beantragung und Durchführung von ambulanter und stationärer Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen und deren aktuelle rechtliche Grundlagen wird eingegangen. Der besondere Problemkomplex Kindeswohlgefährdung mit den speziellen Aspekten Vernachlässigung, Misshandlung, sexueller Missbrauch und Trauma wird umfassend thematisiert.

Schließlich wird den Teilnehmenden ein Überblick über gängige Verfahren der Psychoedukation und Psychotherapie mit Aspekten der verschiedenen Möglichkeiten und entsprechenden Indikationsstellungen (z. B. Unterschied Verhaltenstherapie zu tiefenpsychologischer Psychotherapie) gegeben.

Modul IV: "Praktische Übungen und Hospitationen" (10 h)

Die Teilnehmenden hospitieren 10 Zeitstunden im Alltag eines SPZ oder absolvieren den praktischen Teil in Form von Übungen mit Testmaterial mit oder ohne Patienten unter Anleitung von SPZ-Mitarbeitern.

Abrechnungsmöglichkeiten für sozialpädiatrische Leistungen

Seit dem 01. 01.15 besteht für niedergelassene Kinder- und Jugendärzte mit einem kassenärztlichen Sitz und mit entsprechender Qualifikation die Möglichkeit, sozialpädiatrische Versorgung umfangreicher als bisher abzurechnen. Hierdurch wird im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin der deutlich erhöhte Aufwand für die Betreuung chronisch kranker und behinderter Kinder und Jugendlicher mit definierten Diagnosen angemessener honoriert. Durch die Kassenärztlichen Vereinigungen wurde zusätzlich zur bereits bestehenden Gebührenordnungsposition (GOP) "Sozialpädiatrische Beratung" (GOP 04355) die "Weiterführende sozialpädiatrisch orientierte Versorgung" (GOP 04356) in den Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) aufgenommen. Um letztere Leistung abrechnen zu können, ist u. a. eine zusätzlich nachzuweisende Qualifikation notwendig, zu der das CESP zählt.

Im Jahr 2015 wurde für diese Leistungen seitens der Kassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen erstmals eine Summe von ca. 14 Millionen Euro aus dem Budget des hausärztlichen Versorgungsbereichs beschlossen.

Auswertung der Brandenburger Kurse

Mit der Einführung der Möglichkeit, sozialpädiatrische Versorgung in der Niederlassung abzurechnen, kam es zu einem deutschlandweiten Aufruf an alle SPZ-Leiter, das CESP in den jeweiligen Städten bzw. Regionen für die niedergelassenen Kinderärzte anzubieten. Im Flächenland Brandenburg schlossen sich die Sozialpädiatrischen Zentren Frankfurt, Neuruppin, Cottbus und Potsdam zusammen, um ein Angebot für alle niedergelassenen Kinderärzte, insbesondere jedoch für Kinderärzte im Land Brandenburg, zu entwickeln und anzubieten. Zusätzlich zu den Mitarbeitern der Sozialpädiatrischen Zentren konnten zudem Referenten von lokalen Netzwerkpartnern (u. a. Frühförderstellen, Rehabilitationskliniken) gewonnen werden.

Am 20.02.2016 startete das Curriculum Sozialpädiatrie mit 33 Teilnehmern zum ersten Mal in der Villa Bergmann in Potsdam. Die teilnehmenden Kinderärzte, die aus Brandenburg sowie aus ganz Deutschland angereist waren, zeigten sich als eine sehr interessierte und engagierte Zuhörerschaft. Ein Unterrichtspensum von 10 Stunden täglich erforderte eine lange Aufmerksamkeitsspanne der Teilnehmer. Darüber hinaus zeigte sich in der praktischen Durchführung, dass durch das ambitionierte Vorhaben der Vortragenden, die Aspekte der Entwicklungs- und Sozialpädiatrie möglichst umfänglich darzustellen, zu wenig Raum für einen interaktiven Austausch mit den Teilnehmern ließ.

Evaluation der 4 Curricula in Potsdam im Zeitraum 2016 – 2018

In den Jahren 2016 bis 2018 wurde das daraufhin angepasste CESP viermal in Potsdam mit je 30 – 35 Teilnehmern durchgeführt. Die Potsdamer Fortbildungsakademie ließ die Teilnehmer die Fortbildung an Hand von Fragebögen evaluieren und wir gaben den Pädiatern am Ende der Fortbildung die Möglichkeit eines persönlichen Feedbacks bezüglich der Veranstaltung.

Neben vielen positiven Rückmeldungen gab es auch Verbesserungsvorschläge der Teilnehmenden. Diese Kritik der Teilnehmer aufnehmend, hielten wir alle Referenten dazu an, die Vorträge sinnvoll zu kürzen, den Praxisbezug zu erhöhen und mehr Zeit für die Interaktion mit den Kollegen einzuräumen. Auch führten wir ein Skript ein und versuchten den thematischen Ablauf des CESP zu optimieren. Es zeigte sich, dass diese Nachbesserungen von den Teilnehmern positiv aufgenommen wurden und auch die Dozenten profitierten von dem erweiterten Austausch. Auch versuchten wir, die Hospitationstage direkt vor oder im Anschluss an die Fortbildungstage zu legen, sodass die Teilnehmer innerhalb von 4 Tagen das Gesamtpaket des CESP absolvieren konnten.

Fazit aus Brandenburg

Bot das CESP den Kinderärzten die Möglichkeit, sich während der Veranstaltung gegenseitig kennenzulernen und zu vernetzen, galt dies auch für die Mitarbeiter der Sozialpädiatrischen Zentren. Durch den persönlichen Austausch während der Hospitation und des Unterrichts konnten die SPZ-Mitarbeiter die Bedürfnisse der niedergelassenen Kinderärzte vertieft kennenlernen. Ebenso gaben die veranstalteten Kurse den Sozialpädiatrischen Zentren in Brandenburg die Möglichkeit, sich als Einheit mit demselben fachlichen Knowhow und Vorgehen darzustellen. Folgende Vorteile entstanden durch die Durchführung des CESP aus unserer Sicht für die Sozialpädiatrischen Zentren in Brandenburg:
  • Verbessertes Kennenlernen der Bedürfnislagen der überweisenden Kinderärzte
  • Optimierung von Abläufen in der Zusammenarbeit
  • Kommunikationsmöglichkeit zwischen Kinder- und Jugendarzt und SPZ-Mitarbeiter durch persönliches Kennenlernen verbessert ("kurzer Draht")
  • Gemeinsamer sozialpädiatrischer Blick auf unsere Patienten und deren Familien

Fazit: Insbesondere die meist in den Sozialpädiatrischen Zentren durchgeführte 10-stündige Hospitation hat das Verständnis für die meist sehr komplexe Arbeit im SPZ durch die Kinder- und Jugendärzte in der Niederlassung erhöht. Das CESP ist aus Sicht der Autoren ein empfehlenswertes Curriculum, welches jeder Kinder- und Jugendarzt absolvieren sollte, der Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen behandelt.

Dies bekräftigt auch Dr. Steffanie Reismann als Teilnehmerin, die seit Beginn des Jahres 2014 als Fachärztin in einer Kinderarztpraxis in Potsdam tätig ist: "Das Curriculum Sozialpädiatrie war für mich die notwendige Weiterbildung, um eben diese Grundlage zu schaffen. In den einzelnen Modulen wurden meine genannten Fragen beantwortet. Der Seminarcharakter machte eben auch den Austausch mit anderen niedergelassenen oder ambulant tätigen Kollegen möglich. Durch die Hospitation im SPZ vor Ort erhielt ich einen Einblick in die tägliche Arbeit des SPZ-Teams. Schnittstellen zwischen Praxis und SPZ wurden nochmal klarer. Spannend war für mich, insbesondere den Logopäden, Ergotherapeuten oder Psychologen mal über die Schulter zu schauen. Wann bietet sich sonst die Gelegenheit, z. B. einer ausführlichen Intelligenztestung beizuwohnen. Es wurden Kontakte geknüpft. Der Austausch mit den SPZ-Kollegen während der Hospitation war ausgesprochen hilfreich für das Netzwerk, auf das ich nun in der Praxis ständig zurückgreifen kann."

Einen ausführlichen Artikel zur Evaluation des Curriculums Entwicklungs- und Sozialpädiatrie für die kinder- und jugendärztliche Praxis (CESP) finden Sie unter „Dreesmann M, Anders U, Reismann S, Krumpe S, Hollmann, H. Das Curriculum Entwicklungs- und Sozialpädiatrie für die Kinder- und Jugendärztliche Praxis – Versuch einer Evaluation. pädiatrische praxis 2019; 92 (1): 118 – 132.


Korrespondenzadressen
Dr. med. Mona Dreesmann
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie
Sozialpädiatrisches Zentrum Potsdam
Behlertstraße 45a
14467 Potsdam

Dr. Christoph Kretzschmar
Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie
Sozialpädiatrisches Zentrum am Städtischen Klinikum Dresden
Industriestraße 40
01129 Dresden

Ursula Anders, Dipl. Psychologin
Psychologische Psychotherapeutin
Sozialpädiatrisches Zentrum Potsdam
Behlertstraße 45a
14467 Potsdam

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (4) Seite 291-294