In unserem diesjährigen Bericht zum Kongress für Kinder- und Jugendmedizin fassen wir einige der insbesondere für die (Sozial-)Pädiater relevanten Erkenntnisse des gesamten Kongresses und speziell von der 74. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) zusammen.

Immunreaktion, Notfallmedizin und digitale Transformation waren die diesjährigen medizinischen Schwerpunktthemen des Kongresses für Kinder- und Jugendmedizin der großen pädiatrischen Fachgesellschaften in Hamburg. Auch die Folgen der COVID-19-Pandemie standen im Fokus sowie hochbrisante gesundheitspolitische Themen (etwa Ökonomisierung und Rationierung) der Kinder- und Jugendmedizin. Und natürlich: spezifische sozialpädiatrische Themen wie der Umgang, die Teilhabe und Betreuung von Kindern mit chronischen Erkrankungen oder die Kindermedizin in Zeiten der Digitalisierung oder künstlichen Intelligenz (KI).

Das gab es noch nie ...

... in der langen Geschichte von Pädiatrie-Kongressen in Deutschland und damit auch noch nie zuvor bei Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ): Erstmals hat ein Bundeskanzler in einer Videobotschaft die Arbeit der Pädiater explizit herausgestellt. So würdigte Olaf Scholz (SPD), dass die Pädiaterinnen und Pädiater während der Corona-Pandemie mit ihren Stellungnahmen viele auf Kinder bezogene politische Entscheidungen mit beeinflusst hätten. Die Bundesregierung – so kündigte der Kanzler an – werde auch künftig weiter auf die Fachkompetenz in der Kinder- und Jugendmedizin setzen, weil es nun darum gehe, die längerfristigen Folgen der Pandemie möglichst kindgerecht aufzuarbeiten und zu bewältigen.

Ökonomie und Pädiatrie passen nicht zusammen

Dabei dürfe die Ökonomie die Medizin nicht weiter dominieren, bekräftigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Das meinte auch Bernhard Hoch, Geschäftsführer der Gesellschaft Kinderkliniken und Kinderabteilungen in Deutschland (GKinD). "Doch Ökonomie und Pädiatrie passen nicht zusammen", erklärte er in Hamburg. Dies treffe selbst für großspurige Versprechen zu, die von der Politik kommen. Von den in diesem und nächsten Jahr eigentlich zugesagten je 300 Millionen Finanzspritzen speziell für die Kinderkliniken würden allein 60 bis 80 Millionen an Erwachsenenkliniken fließen, die auch Kinder versorgen. Auch generell schnitten Kinder bei der Verteilung von Gesundheitsbudgets schlecht ab, kritisierte Hoch in Hamburg. So kämen lediglich 8,1 % aller Krankheitskosten (35 von rund 430 Milliarden) Kindern und Adoleszenten zugute. Diese machten jedoch 17 % der Gesamtbevölkerung aus – ein klares Missverhältnis.

Hoch forderte daher in Hamburg, dass bei der anstehenden Krankenhausreform die Kinderkliniken künftig bei den Vorhaltekosten überproportional berücksichtigt werden müssten. Denn die Vorhalte-Aufwendungen in Kinderklinken fielen noch höher aus als in Allgemein-Krankenhäusern. Zudem fehle den Kinderkliniken seit Jahrzehnten eine solide finanzielle Basis zur Grundversorgung, da sie über keine eigenen Kinder-DRGs verfügten. Der gesundheitliche und soziale Mehrwert, den die stationäre pädiatrische Versorgung generiere, wird so nach Ansicht von Hoch bislang in keiner Weise berücksichtigt.

Hat die Rationierung bereits begonnen?

Und das hat gravierende Folgen, die zum Teil bis hin zu Rationierung reichten. "Die Pädiatrie segelt derzeit ganz hart am Wind", stellte Prof. Jörg Dötsch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), in Hamburg klipp und klar fest. Trotz der Aufhebung der Budgetierung, den jährlichen Millionen Finanzspritzen für die Kinderkliniken und der geplanten Vorhaltevergütung für Krankenhäuser habe die Rationierung in der Kinder- und Jugendmedizin bereits begonnen. Dötsch verdeutlichte dies am Beispiel der Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ): Immer häufiger müssten Eltern heute über ein Jahr lang auf einen ersten sozialpädiatrischen Vorstellungstermin in einem SPZ warten. Dies sei angesichts der Schwere und der Komplexität der 466.000 Patientinnen und Patienten, die im Jahr 2022 in den bundesweit 161 SPZ behandelt worden sind, ein unhaltbarer Zustand. Dies könne so "nicht länger hingenommen werden", räumte selbst Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in seiner Videobotschaft ein.

Es sei daher höchste Zeit, die SPZ nachhaltig zu stärken, forderte Prof. Astrid Bertsche, Kongresspräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) in Hamburg. Vordringlich sei hierbei vor allem – ähnlich wie bei den Kinderkliniken – die Gewährung einer Soforthilfe für die SPZ für 2023 und 2024. Zudem müsse die Finanzierung "nichtärztlicher sozialpädiatrischer Leistungen" für alle SPZ endlich einheitlich und nachhaltig geregelt werden.

Viele Eltern scheinen ausgepowert zu sein

Dies sei unter anderem auch deshalb notwendig, um die psychischen Folgen der COVID-Pandemie künftig besser auffangen zu können, unterstrich Prof. Volker Mall, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ). Bei den Kleinkindern hielten Symptome wie das vermehrte Schreien und Schlafprobleme, die in allen 3 Wellen während der Corona-Pandemie beobachtet worden sind, weiter an. Ganz generell habe die Belastung von Familien durch die Pandemie nach den Daten einer Studie aus Bayern mit 2.940 Kindern im Alter bis zu 3 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen. Viele Eltern scheinen ausgepowert zu sein.

Über 60 % gaben in der Erhebung an, nur noch eingeschränkt emotional verfügbar zu sein. Dies, so Mall, sei ein äußerst "bedenklicher" Wert. Denn die emotionale Verfügbarkeit von Eltern sei für die psychische Entwicklung ihrer Kinder "von hoher Relevanz." Je höher dieser Wert ausfalle, desto negativer sei dies für eine stabile kindliche Seele. Die Folgen dieser "massiven Erschöpfungszustände" dürften daher – für die gesamte junge Generation – nicht weiter unterschätzt werden.

Epilepsie: Hoher Grad an Stigmatisierung

Dies trifft auch für solche Kinder zu, die an chronischen Erkrankungen leiden, wie beim Hamburger Kongress in vielen Veranstaltungen der DGSPJ deutlich wurde. Zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie, die gerade bei der Jahrestagung der DGSPJ in zahlreichen Symposien mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen im Fokus standen. So zum Beispiel auch bei der Präsentation von Prof. Astrid Bertsche aus Greifwald, die in Hamburg zugleich auch als Kongressleiterin der 74. Jahrestagung der DGSPJ fungierte. Sie hob im Rahmen ihres Themas "Teilhabe bei Epilepsie in Kindergärten und Schulen" insbesondere den "erschreckend hohen Grad an Diskriminierung" hervor, dem Betroffene heute nach wie vor ausgesetzt sind. Dies konnte die Greifswalder Sozialpädiaterin auch gut anhand diverser Studienergebnisse mit Zahlen belegen. So räumen 64 % der heute erwachsenen Epilepsie-Patientinnen und -patienten ein, selbst schon einmal Vorurteilen ausgesetzt gewesen zu sein. Mit 59 % ähnlich benachteiligt sehen auch Eltern ihre Kinder an, bei denen eine Epilepsie und Entwicklungsverzögerung diagnostiziert wurde. Dies trifft zum Beispiel für die schulische Leistungsfähigkeit zu. Denn Stigmatisierung erleben die Betroffenen häufig auch von Lehrerinnen und Lehrern oder Erzieherinnen und Erziehern. Zwar treffe es zu, dass Kinder mit einer Epilepsie mitunter über eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit verfügten. Jedoch, so Bertsche, "gibt es auch betroffene Kinder mit durchschnittlichem oder sogar überdurchschnittlichem Leistungsvermögen." Eine Stigmatisierung von Seiten der Pädagogen sei daher in keiner Weise angebracht.

Schulungen können sehr viel bewirken

Mit weiteren Studien konnte belegt werden, dass in den Förderschulen, in denen häufiger Schulungen stattfinden und bessere Kenntnisse über Epilepsie vorhanden sind, Vorurteile über die Folgen der Erkrankung weniger verbreitet sind als zum Beispiel in Regelschulen. Bertsche konnte zeigen, dass für Erzieherinnen an Kitas und Horten bereits eine einmalige Schulung ausreicht, um die Teilhabe der Kinder mit Epilepsie zu verbessern. Danach waren 6 von 10 Erzieherinnen in der Lage, fehlerfrei Notfallarzneien zu verabreichen. Die Bereitschaft, Kinder mit Epilepsie auf einen Ausflug – ein Beispiel für gelebte Teilhabe – mitzunehmen, stieg danach zudem signifikant an.

Für eine bessere Teilhabe sei es aber auch entscheidend, dass Kinder frühzeitig lernen, offen über ihre Erkrankung zu sprechen. Dafür wollte die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Dr. Sarah Jeschke aus Greifswald in Hamburg eine "Lanze brechen". Ihre ärztlichen Kolleginnen und Kollegen forderte sie dazu auf, schon ab dem Alter von 5 Jahren mit den Kindern über die Erkrankung zu kommunizieren und dabei die heute immer noch übliche "Facharztsprache" abzulegen. Dabei könne man sich an den heute verfügbaren zahlreichen Kinderbüchern oder Videos über Epilepsie orientieren. Eine altersgerechte Ansprache der Kinder zahle sich aus, weil damit auch deren "Selbstkonzept" spürbar verbessert werden könne.

Programm Flip&Flap neu aufgestellt

Hilfreich hierfür kann auch das Epilepsie-Schulungsprogramm Filp&Flap sein, für das Prof. Juliane Spiegler von der Uniklinik Würzburg und vom Fachausschuss Fort- und Weiterbildung in der DGSPJ warb. Sie stellte beim Hamburger Kongress die aktuelle Version des bereits ab dem Jahr 2000 entwickelten Programms vor, das in den Jahren 2020 und 2021 in vielfältiger Weise etwa bei der Notfallmedikation, der Klassifikation, der Fortbildung (train the trainer) und der Umsetzung (Einbezug von Smartphones) angepasst werden musste. Am Beispiel von Flap, dessen Nervenzellen nicht ganz so gut funktionieren wie bei Flip, wird gezeigt, wie auch Flap mit medikamentöser Unterstützung genauso gut mit der Epilepsie leben kann wie Flip, der keine Medikation benötigt.

Schließlich wurde Filp&Flap nun auch in das "Modulare Schulungsprogramm für chronisch kranke Kinder, Jugendliche und Familien (ModuS)" überführt, um auf Dauer die Finanzierung des Programms sichern zu können. Ein entsprechender Antrag an die Krankenkassen wird derzeit geprüft.

ModuS war dem Team der "BayNet for ME/CFS"-Studie eine Hilfe, ein online Schulungsprogramm für Betroffene mit ME/CFS, für ihre Eltern und für Geschwister zu entwickeln. Erste Pilotschulungen sind bei allen Beteiligten auf positive Resonanz getroffen.

Online-Schulungen – sehr positive Resonanz

Langjährigen Überprüfungen waren auch die Online-Schulungen ausgesetzt, die schon seit 2 Jahrzehnten im ambulanten Schulungszentrum der Uni Würzburg für die gängigen chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter erprobt werden und von Doris Götz vorgestellt wurden. Sie räumte zwar ein, dass Online-Schulungen etwa zu den Themen Asthma, Neurodermitis oder Epilepsie bei den Fachkräften zunächst auf Vorbehalte stießen. Zudem erfordern sie durchaus einen hohen personellen und organisatorischen Aufwand und kommen bei Familien etwa mit Sprachproblemen nur bedingt in Frage.

Bei den meisten Eltern und Kindern (bereits ab 2 Jahren) kommen Online-Angebote wie Videosprechstunden, Abend-Online-Schulungen oder You-Tube-Einspielungen (Sport-Workout) aber bestens an. Im Vergleich zur Präsenzschulung werden dabei keine Nachteile gesehen. Eltern könnten damit sogar in die Lage versetzt werden, Belastungstests von Kindern zu Hause selbst zuverlässig vorzunehmen.

KI – Nutzen und Risiken abwägen

Online-Angebote und Online-Schulungen sind also zur besseren Bewältigung von chronischen Erkrankungen nun bereits etabliert. Doch wie lange wird es noch dauern, bis dies auch für die Nutzung und Implementierung der künstlichen Intelligenz (KI) zutrifft? Oder anders gefragt: Wie kann es gelingen, in der Kindermedizin eine "vertrauensvolle KI" zu implementieren? Dr. Ludger Tüshaus von der Universitätsklinik für Kinderchirurgie im Campus Lübeck lieferte hierfür beim Kongress für Kinder- und Jugendmedizin am Beispiel der kinderchirurgischen Diagnostik aktuelle Daten.

So sei zum Beispiel schon heute die KI für die Mediziner bei der Ultraschall-Bildgebung von Frakturen im Kindes- und Jugendalter eine wertvolle Hilfe. Für die Diagnostik sei sie hilfreich, weil so die anatomischen Strukturen während der Aufnahme und auch mögliche Frakturen besser abgeglichen werden könnten. Bei der Ultraschallaufnahme könne die Untersuchungsebene detaillierter verifiziert werden und auch besser abgewogen werden, ob die Qualität der Aufnahme ausreichend ist.

Allerdings müssten stets Nutzen und Risiken abgewogen werden, stellte Tüshaus bei seiner Präsentation im Rahmen der 74. Jahrestagung der DGSPJ klar. Mit Hilfe der KI sei es zum Beispiel möglich, dezentral und umgehend nach einer präzisen Diagnosestellung eine bestmögliche Therapie des Kindes – bis hin zur personalisierten Medizin – einzuleiten. In Zeiten des Fachkräftemangels sei dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil, der sogar zu dezentralen sektorübergreifenden best-practice Standards führen könne. Zudem würden schonende Methoden der KI auch zur "psychoemotionalen Entlastung" von Patientinnen, Patienten und Eltern führen.

KI in der Kindermedizin ist ein "Mannschaftssport"

Diesen Vorteilen stünden eine Reihe von Risiken entgegen: der Datenschutz und der Umgang mit den Daten, falsche Daten, gegebenenfalls zu kleine Datenvolumen oder auch die Haftungsfragen. Und natürlich die noch fehlenden Zertifizierungskonzepte oder verlässliche Kostenübernahme-Regelungen. Denn die KI werde künftig etwa als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, als ein Hilfsmittel im ambulanten Bereich oder bei den digitalen Gesundheitsanwendungen für weite Bereiche im Gesundheitswesen eine große Rolle spielen.

Die Pädiaterinnen und Pädiater ermunterte Tüshaus am Ende, sich die erforderliche digitale, kommunikative und ethische Kompetenz anzueignen, um von der KI profitieren zu können. Dies sei aber nur im engen Zusammenspiel mit vielen anderen Berufsgruppen möglich, da die KI ein Paradebeispiel für "Mannschaftssport" sei. Wer sich darauf einlasse, werde aber künftig insbesondere bei den täglichen Routinefällen auch in der Kinder- und Jugendmedizin zeitlich und fachlich profitieren können.


Korrespondenzadresse
Raimund Schmid
Dipl. Volkswirt/Journalist
Medienbüro
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2023; 94 (6) Seite 426 - 428