2019 prüften die Jugendämter bundesweit mehr als 173.000 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung. In vielen Familien ist das Kindeswohl auch dann gefährdet, wenn kein direkter Missbrauch vorliegt.

Das Kindeswohl von immer mehr Kindern und Jugendlichen ist zunehmend gefährdet. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurde 2019 bei rund 55.500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren 10 % mehr als 2018.

„Ob dabei aber die tatsächlichen Fallzahlen hin zu einem neuen Höchststand gestiegen sind, ist nicht gesichert. Ein Grund für den hohen Anstieg der Fallzahlen könnte die umfangreiche Berichterstattung über Missbrauchsfälle in den vergangenen beiden Jahren sein, die zu einer weiteren generellen Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie der Behörden geführt haben dürfte“, hieß es dazu aus dem Statistischen Bundesamt.

Fest steht aber: Bundesweit hatten die Jugendämter im Jahr 2019 mehr als 173.000 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung geprüft. Das waren rund 15.800 oder 9 % mehr als 2018. Danach war jedes zweite gefährdete Kind jünger als 8 Jahre. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei Alleinerziehenden auf (42 %).

Am häufigsten kam ein Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung von der Polizei, den Gerichten oder der Staatsanwaltschaft (22 %), Schulen und Kitas (17 %) oder aus dem privaten Umfeld beziehungsweise anonym (15 %). Sehr ernüchternd ist indes diese Erkenntnis: Nur 4 % der gefährdeten Kinder hatten selbst Hilfe beim Jugendamt gesucht. Die meisten von ihnen wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 %). Bei 32 % gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen wie Demütigungen oder emotionale Kälte, bei 27 % Indizien für körperliche Misshandlungen, bei 5 % Anzeichen für sexuelle Gewalt (rund 3.000 Fälle). In 20 % aller Fälle schaltete das Jugendamt das Familiengericht ein, in 16 % nahm es die Kinder vorübergehend in Obhut.

Kommentar:
Hinter diesen blanken Zahlen des Statistischen Bundesamtes verbergen sich neue und beunruhigende Entwicklungen, die erst auf den zweiten Blick erkennbar werden. So nahmen Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt trotz der vermeintlich geringen Anzahl besonders stark – und zwar um 22 % – zu. 2019 registrierten die Jugendämter auch mehr betroffene Jungen als in den Jahren zuvor. Und: Bei rund 60.000 Kindern und Jugendlichen hat sich der Verdacht der Kindeswohlgefährdung nicht bestätigt, die Jugendämter sahen aber dennoch Hilfe- und Unterstützungsbedarf. Das zeigt: In vielen Familien ist das Kindeswohl auch dann gefährdet, wenn kein direkter Missbrauch vorliegt. Die Politik ist damit herausgefordert, künftig gerade diese Familien noch stärker in den Blick zu nehmen.


Autor
Raimund Schmid


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (6) Seite 394