Die unter dem Dach der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) vereinten pädiatrischen Gesellschaften und Verbände haben ein gemeinsames politisches Forderungspapier verabschiedet. Sie sehen vordringlichge Handlungsbedarf in fünf Bereichen und machen Vorschläge zur Umsetzung.

Die unter dem Dach der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) vereinten pädiatrischen Gesellschaften und Verbände haben ein gemeinsames politisches Forderungspapier verabschiedet. Unter dem Titel "Gleiche gesundheitliche Chancen für Kinder und Jugendliche in Deutschland" identifizieren BVKJ, DAKJ, DGKJ und DGSPJ vorrangige Missstände in der gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen und leiten daraus konkrete politische Handlungsvorschläge für die nächste Legislaturperiode ab.

Die angesprochenen 5 Themenkomplexe decken nicht alles ab, was diskussions- oder verbesserungswürdig wäre, es handelt sich um gemeinsam abgestimmte Prioritäten, die staatliches und politisches Handeln in den nächsten Jahren erfordern. Für jeden dieser Bereiche wurde ein Forderungs-Paket herausgearbeitet mit einzelnen, an die jeweils betroffenen Adressaten gerichteten Maßnahmen. Diese Forderungen basieren auf der gemeinsamen Unterstützung der unterzeichnenden Verbände und sind damit nicht erschöpfend. Die DGSPJ ruft alle Mitglieder auf, sich auch lokal und regional an politisch Verantwortliche zu wenden, wie die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Gesundheitsversorgung abgebaut werden kann. Dieses Eckpunktepapier bietet eine gute Grundlage für kritische Fragen an Kandidaten. Wir drucken es daher vollständig hier ab – das Papier soll allen ein Begleiter in den kommenden Monaten sein.

Die Sozialpädiatrie dient all den Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, die besondere Unterstützung auf dem Weg zur Inklusion und Schutz vor Ausgrenzung brauchen. Sie ist in diesem Anliegen besonders "sprechfähig" und kann kompetent eine Anwaltschaft für die Familien übernehmen, die uns ihr Vertrauen entgegenbringen.

Der Text ist auch auf der Seite der DGSPJ herunterzuladen (www.dgspj.de/service/stellungnahmen/).

Für den Vorstand
Ute Thyen, Andreas Oberle


Gleiche gesundheitliche Chancen für Kinder und Jugendliche in Deutschland

Umsetzung in der 19. Wahlperiode

Die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen und gesundheitliche Chancengleichheit sind entscheidend für die zukünftige Entwicklung der gesamten Gesellschaft. Von der Verwirklichung gleicher Chancen sind wir aber noch weit entfernt. Ohne sie wird eine perspektivisch bessere Integration gerade auch sozial benachteiligter und bildungsferner Schichten der Bevölkerung kaum gelingen.

Zusammengefasst sehen wir vordringlichen Bedarf zum politischen Handeln in folgenden Bereichen

1. Sicherstellung der Versorgung

Eine qualifizierte und flächendeckende Normal- und Notfallversorgung muss im ambulanten, stationären und öffentlichen Gesundheitswesen gewährleistet sein. Wir fordern die Entkopplung der Kinder- und Jugendmedizin vom Fallvergütungssystem der Erwachsenenmedizin bzw. Sicherstellungszuschläge für die stationäre Versorgung, neue Planungsvorgaben zur Sicherung spezialisierter personeller Strukturen, eine neue Bedarfsplanung, die die aktuellen Rahmenbedingungen (höherer Betreuungsaufwand, geringerer Arbeitsstundenumfang pro Kinder- und Jugendarzt/ärztin, demografischer Wandel) berücksichtigt und eine bessere Ausstattung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes durch verbindliche Vorgaben auch auf Bundesebene.

2. Forschung und Ausbildung

Wir fordern die finanzielle Förderung in der ambulanten Weiterbildung zum Arzt für Kinder- und Jugendmedizin sowie ein Forschungszentrum für Kindergesundheit (wie in vielen anderen Ländern bereits vorhanden) durch Ausbau und eine bessere Vernetzung von spezialisierten Zentren für die vielfältigen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters.

3. Vernetzung

Die Finanzierung der Versorgungsstrukturen und Sicherungssysteme für Kinder und Jugendliche muss sektorenübergreifend und unbürokratischer erfolgen. SGB V und SGB VIII sind den Erfordernissen einer besseren Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen (ganzheitlicher Ansatz) anzupassen, wobei auch Translation und Transition optimiert werden müssen.

4. Prävention

Gesundheitsförderung und Prävention müssen im Leistungskatalog der Krankenversicherung gestärkt werden, wobei die Akteure des Gesundheitswesens bei der Versorgung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher sowie ihrer Familien eng einbezogen werden müssen. Vorgeburtlich, in der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren sollten neue Schwerpunkte gesetzt werden mit Kommunikationsbrücken, case management, Schulpflegefachkräften und Ernährungsrichtlinien.

5. Kinderrechte und Kinderschutz

Wir fordern die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz, eine vollständige Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, die Einsetzung einer/s Bundeskinderbeauftragten sowie die politische Aufwertung der Kinderkommission des Deutschen Bundestages.


Gleiche gesundheitliche Chancen für Kinder und Jugendliche in Deutschland

Vorschläge zur Umsetzung in der 19. Wahlperiode

Die pädiatrischen Fachverbände sehen dringenden politischen Handlungsbedarf, um die gesundheitliche Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland sicherzustellen.

1. Allgemein zugänglich – Flächendeckende kinder- und jugendmedizinische Versorgung sichern

Die flächendeckende qualifizierte Versorgung von Kindern und Jugendlichen und ihr allgemeiner Zugang zur Behandlung sind aufgrund ungerechter Finanzierungs-strukturen stark gefährdet.

Ambulante Strukturen, Kliniken zur stationären Versorgung und Notfallversorgung für Kinder und Jugendliche in zumutbarer Entfernung sowie der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD) sind wichtige Bestandteile der staatlichen Daseinsvorsorge. Ihre ausreichende Vorhaltung ist Voraussetzung dafür, dass das Recht eines jeden Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit und Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen (Artikel 24, Kinderrechtskonvention) erfüllt wird.

Die aktuelle Bedarfsplanung für kinder- und jugendärztliche Praxen entspricht nicht dem viel größeren tatsächlichen Bedarf. Aufwand und Zeitintensität pro Patient haben aufgrund der sogenannten "Neuen Morbiditäten", des höheren Präventionsumfangs, vermehrter Impfungen, der gestiegenen Aufgaben der Sozialpädiatrie und vor allem wegen der zunehmenden Anforderungen an Dokumentation und Qualitätssicherung deutlich zugenommen. Darüber hinaus wächst die Zahl der zu versorgenden Kinder und Jugendlichen u. a. mit der Aufnahme geflüchteter Minderjähriger und aufgrund einer wieder steigenden Geburtenrate stetig. Zugleich ist ein demographischer Wandel in der Ärzteschaft zu konstatieren. Mit dem Wunsch nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf arbeiten Fachärzte/innen heute vermehrt in Teilzeit oder im Angestelltenverhältnis, was wiederum den durchschnittlichen Arbeitsstundenumfang pro Kinder- und Jugendarzt/ärztin senkt.

Im stationären Bereich stellen eine immer dünner werdende Personaldecke und die anhaltende Schließung bzw. Verkleinerung von Fachabteilungen für Kinder- und Jugendmedizin eine höchst problematische Entwicklung dar. Die ungenügende Abbildung pädiatrischer Leistungen und Strukturen im DRG-Finanzierungssystem benachteiligt Kinder und Jugendliche empfindlich. Das geltende Abrechnungssystem orientiert sich an Erwachsenen und verletzt somit das Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzip im Gesundheitswesen mit gravierenden Folgen für die gesundheitliche Versorgung von akut und chronisch kranken Kindern und Jugendlichen durch spezialisierte Behandlungsmaßnahmen [1].

Neben den Praxen und Kliniken spielen die hoheitsrechtlichen Aufgaben des kinder- und jugendärztlichen Dienstes im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) eine wesentliche Versorgungsrolle. Seine schleichende Auszehrung durch anhaltenden Personalabbau und Unterfinanzierung führt zunehmend dazu, dass grundlegende Aufgaben nicht mehr abgedeckt werden können. Hierzu zählen u. a. Untersuchungen bei der Einschulung, aufsuchende Gesundheitsfürsorge, gesundheitliche Beratung und Betreuung von Kindertageseinrichtungen und Schulen.

Unsere gesundheitspolitischen Forderungen:

  • Zur Sicherung der Krankenhausversorgung für Kinder und Jugendliche muss eine separate Lösung für die Finanzierung von Kinderkliniken und -abteilungen entwickelt und umgesetzt werden. Dies kann durch Entkopplung der Kinder- und Jugendmedizin von dem Fallgruppen-Vergütungssystem der Erwachsenenmedizin erfolgen oder durch ausreichend hohe Sicherstellungszuschläge für kinder- und jugendmedizinische Einrichtungen, die eine den tatsächlichen Kosten entsprechende Vergütung auch der Vorhaltekosten gewährleisten. Leistungen in der Kinder- und Jugendmedizin, auch der spezialisierten Hochleistungsmedizin, müssen adäquat finanziell abgebildet werden, damit sie für Patienten rasch und ausreichend bundesweit zur Verfügung stehen können. Dies gilt auch für die Gewährleistung der pädiatrischen Notfallversorgung in zumutbarer Entfernung (30 km Entfernung oder 40 Minuten Fahrzeit) an allen Kinderkliniken und -abteilungen. Eine nachhaltige Lösung kann nur in gemeinsamer Anstrengung von Bund, Ländern, Selbstverwaltung (G-BA) und Krankenversicherungen (KVen) erreicht werden.
  • Es müssen neue, differenzierte und an den Bedürfnissen von Kindern, Jugendlichen und Familien orientierte Richtlinien zur ambulanten und stationären Planungsvorgabe geschaffen werden. Die derzeit angewandten Planungskriterien sind überholt und realitätsfern.
  • Die Parteien müssen (auch vom Bund aus gesteuerte) Lösungen finden, um den ÖGD als besonders für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche unverzichtbare Säule des Gesundheitssystems nachhaltig zu stärken.

2. Besser erforscht und ausgebildet – In Forschungszentrum Kindergesundheit, Aus- und Weiterbildung investieren

Die Forschung in der Kinder- und Jugendmedizin wird in Deutschland im internationalen Vergleich durch die Politik vernachlässigt; auch in die Qualitätssicherung und ambulante Weiterbildung wird nicht ausreichend investiert.

Eine starke Forschung, wissenschaftlich fundierte Qualitätsstandards und hervorragende Ausbildung sind jedoch die Grundlage für die Zukunft der medizinischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Die Bundesregierung hat für andere Bereiche bereits sechs Forschungszentren eingerichtet. In der Kinder- und Jugendmedizin fehlt es an einem solchen Zentrum und damit u. a. an der notwendigen Koordinierung und Konzentration von Forschungsaktivitäten, um interdisziplinär und international Impulse zu setzen. Bei der bundesweiten Datenerhebung zur Früherkennung, Prävention und Behandlung von Volkskrankheiten (NAKO Gesundheitsstudie) wird die Chance verpasst, Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren Müttern und Vätern in die Untersuchung einzubeziehen, obwohl dies für ein besseres Verständnis der Bedingungen von Gesundheit wie Krankheit unabdingbar ist.

Die Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter sind außerordentlich vielfältig, seltene Erkrankungen sind als Gesamtgruppe häufig. Daher steht die Kinder- und Jugendmedizin wie kein anderes Fach der Medizin vor der permanenten Herausforderung, auch komplexe Diagnostik- und Therapiewege mit höchster Qualifizierung und nach aktuellem wissenschaftlichen Stand anzubieten. Um hochqualifizierte Diagnostik und Therapie zu garantieren, müssen begründete Standards bzgl. Qualität, Ausbildung und Personalressourcen unbedingt eingehalten werden, sowohl für Kinder- und Jugendärzte/innen als auch für Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/innen.

In diesem Zusammenhang ist auch die finanzielle Förderung der Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt in den Praxen zu betrachten. Sie ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Alterskurve der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzten/innen und der drohenden Ausdünnung in der Niederlassung bei deutlich gestiegener Aufgabenfülle unabdingbar. Ohne eine Förderung der ambulanten Weiterbildung analog zur Allgemeinmedizin droht eine weitere Ausdünnung der hochwertigen pädiatrischen Versorgung. Eine Definition des Begriffes "Grundversorgung" in der ambulanten Versorgung fehlt im Sozialgesetzbuch, was die bisherigen Bemühungen einer ambulanten fachärztlichen Weiterbildungsförderung ins Leere laufen lässt.

Unsere gesundheitspolitischen Forderungen:

  • Wir fordern die Einrichtung eines Forschungszentrums Kindergesundheit, welches die Forschungsaktivitäten bündelt und übergeordnete Ziele und Schwerpunkte festsetzt. Ein fundiertes Konzept hierzu liegt bereits vor [2]. Um eine gerechtere Verteilung von gesundheitlichen Chancen auf ein von Krankheiten und Gesundheitsstörungen unbelastetes Leben zu erreichen, muss das Forschungsprogramm neben seltenen Erkrankungen u. a. auch biologische, umweltbedingte und psychosoziale Faktoren miteinbeziehen, insbesondere mit Blick auf die pränatale und frühe postnatale Lebensphase.
  • Die Grundlagen für eine gesündere Zukunft werden bereits in der frühen Kindheit, sogar schon vor und in der Schwangerschaft gelegt. Koordiniert durch das Forschungszentrum Kindergesundheit sollten Kinder und Jugendliche gemeinsam mit ihren Eltern bei der Datenerhebung in die Gesundheitsstudie NAKO zukünftig einbezogen werden.
  • Für die Ausbildung von Kinder- und Jugendärzten/innen und Gesundheits- und Kinderkrankenpflegern/innen sowie die personelle Ausstattung von Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin bedarf es bundeseinheitlicher Standards. Die Zusammenarbeit und Abstimmung hierfür durch Bund, Länder, G-BA, KVen und Ärztekammern ist unerlässlich. Die für eine qualifizierte kinder- und jugendmedizinische Versorgung erforderlichen personellen Ressourcen müssen bundeseinheitlich mit ausreichenden Personalschlüsseln sichergestellt werden.
  • Der Beruf der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege muss erhalten bleiben und geschützt werden. In Kinderabteilungen und -kliniken sollen nur Fachkräfte mit einer entsprechenden Spezialausbildung eingesetzt werden. Kinder benötigen gute Pflege durch Pflegepersonal, das auf ihre speziellen Bedürfnisse vorbereitet ist.
  • Die bereits konsentierten Mindest-Standards für Strukturqualität bedürfen einer gesetzlichen Verankerung. Bei der Verbesserung der Qualitätssicherung müssen Fachgesellschaften und Elternverbände eng eingebunden werden.
  • Die finanzielle Förderung der ambulanten Weiterbildung zum/r Kinder- und Jugendarzt/ärztin in den Praxen muss der Allgemeinmedizin entsprechend erhöht werden.

3. Patientenorientiert und vernetzt – Sektoren- und systemübergreifend zusammenarbeiten

Die Leistungsfähigkeit und Versorgungsqualität des Gesundheitssystems für Kinder und Jugendliche leidet unter der Zersplitterung der Versorgungsstrukturen und Sicherungssysteme.

Eine stärkere Vernetzung sowohl innerhalb des Gesundheitssystems als auch in Verbindung mit anderen sozialen Sicherungssystemen ist dringend geboten. Ganzheitliche Lösungsstrategien sollten aus der Sicht der jungen Patienten/innen entwickelt und umgesetzt werden. Wichtig ist, dass aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in der Kinder- und Jugendmedizin die Patienten/innen schneller und besser erreichen. Die verschiedenen Ebenen und Versorgungspunkte müssen dem Lebensumfeld entsprechend besser miteinander verknüpft werden.

Unsere gesundheitspolitischen Forderungen:

  • Die verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens sowie andere Versorgungssysteme (Bildung, Soziales, Kinder- und Jugendhilfe) müssen fachübergreifend zusammenarbeiten. Die Bundespolitik muss hierfür die nötigen gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen.
  • Die Vernetzung zwischen Hochleistungsmedizin und lokalen Versorgungsstrukturen muss verbessert und die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnis in die Versorgungstrukturen (Translation) gewährleistet sein.
  • Die Versorgung soll ganzheitlich ansetzen, die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen zum Ausgangspunkt nehmen und als Querschnittsaufgabe verstanden werden. Ganzheitlichkeit kann nur erreicht werden, wenn Gesetzgebung, G-BA und KVen dieses Ziel gemeinsam umsetzen.
  • Die Gewährleistung einer kontinuierlichen Versorgung von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen mit seltenen Erkrankungen bei ihrem Übergang in die "Erwachsenen-Medizin" (Transition) stellt ebenso wie die Weiterbetreuung von Adoleszenten mit geistiger, Körper- oder Mehrfachbehinderung eine besondere Herausforderung dar. Es bedarf einer besonderen Unterstützung, z. B. durch ein strukturiertes Fallmanagement.

4. Rechtzeitig und gerecht – Früh Weichen stellen und Prävention stärken

Die bisherigen Anstrengungen in der Gesundheitsförderung und Prävention sind ungenügend und erfolgen meist zu spät, um den Teufelskreis von Armut, mangelnder Bildung und schlechter Gesundheit zu durchbrechen.

Menschen aus sozial benachteiligten und prekären Verhältnissen tragen deutlich höhere Gesundheitsrisiken (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall), altern schneller und haben eine niedrigere Lebenserwartung. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen keinen Zweifel daran, dass Kinder und Jugendliche in psychosozial belasteten Familien vom schädlichen Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit besonders betroffen sind. Sie tragen sowohl körperlich als auch psychisch eine deutlich größere Krankheitslast als ihre besser gestellten Altersgenossen. Bei der Gesundheitsversorgung wird außerdem die frühe Lebensphase vernachlässigt, obwohl sie für die lebenslange Gesundheit und Entwicklung entscheidend ist. In der Schwangerschaft und im Säuglingsalter finden die stärksten Prägungen statt. Hier werden Grundlagen des Essverhaltens, von Risiken für Allergien, Übergewicht und Diabetes mellitus, aber auch für die körperliche, psychische und soziale Entwicklung gelegt (Epigenetik). Um die richtigen Weichen zu stellen für eine zukunftsorientierte und gerechte Gesundheitspolitik müssen die frühe Kindheit sowie Gesundheitsförderung und Prävention in den Mittelpunkt gestellt werden. Ein positives Beispiel sind die "Frühen Hilfen".

Auch die Gesundheitsversorgung geflüchteter Minderjähriger und ihrer Familien muss von Anfang an verbessert werden, so dass Impfungen vorgenommen, Krankheiten und Traumata erkannt und behandelt werden können und es – im Falle von Behinderungen und chronischen Erkrankungen – nicht zu einer Verschlechterung oder Chronifizierung kommt. Die gebotene Integration von Menschen ist ohne eine gute Gesundheitsversorgung nicht denkbar.

Unsere gesundheitspolitischen Forderungen:

  • Der Leistungskatalog der Krankenversicherung muss insbesondere für Kinder und Jugendliche zugunsten einer stärkeren Hinwendung zu präventiver Medizin reformiert werden. Entsprechende finanzielle Anreize für Maßnahmen der Gesundheitsförderung müssen dafür gesetzt werden. Hier stehen die KVen und der G-BA in der Verantwortung.
  • Die Bundespolitik ist mit Blick auf die besonders benachteiligte Gruppe von geflüchteten Minderjährigen aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass jedes Kind und jeder Jugendliche in Deutschland, unabhängig von Herkunft und Status, im Gesundheitswesen die notwendige und angemessene Behandlung erhalten kann. Voraussetzung hierfür ist die Überwindung der Kommunikationsbarrieren durch systematische Bereitstellung von Dolmetschern. Die Kosten hierfür sind als unabdingbarer zweckmäßiger Aufwand von den Gesetzlichen Krankenkassen zu übernehmen.
  • Bildungs- und Aufklärungsprogramme für die frühe Lebensphase müssen ausgeweitet und hierfür gemeinsam von Bund und Ländern eine gesetzlich verankerte Versorgungsinfrastruktur geschaffen werden. Beratungsangebote müssen sowohl die Zeit vor als auch nach der Geburt umfassen. Vorsorgeuntersuchungen bei Gynäkologen/innen und Pädiatern/innen, Schwangerschafts- und Ernährungsberatung sowie Hebammenleistungen müssen miteinbezogen und ausgebaut werden. Der G-BA muss hierzu entsprechende Richtlinien formulieren.
  • Wichtige Kontaktpunkte müssen in der Versorgung während der frühen Lebensphase einbezogen werden, insbesondere bei psychosozial belasteten Kindern und ihren Familien. Die "Frühen Hilfen" können hier als Vorbild dienen. Dabei nehmen u. a. auch Kinder- und Jugendärzte in der Praxis eine Schlüsselrolle ein. Dieses Engagement muss unterstützt und in die durch das SGB V und VIII finanzierten Versorgungsstrukturen angemessen integriert werden. Die Vernetzung muss weiterentwickelt und in einem strukturierten Fallmanagement mit Lotsensystem umgesetzt werden. Kommunen und Stadtbezirke sollten die entscheidende Plattform für die Koordination von Frühen Hilfen und dem Gesundheitswesen bilden.
  • Auf Länderebene muss die Aus- und Weiterbildung von Erziehern/innen und Lehrern/innen deutlich verbessert und in Bezug auf Gesundheitsförderung erweitert werden. Vor dem Hintergrund der einzigartigen Bedeutung des frühkindlichen Spracherwerbs müssen in allen Kindertagesstätten ab dem dritten Lebensjahr flächendeckend Sprachförderprogramme etabliert werden. Personalschlüssel müssen hierfür deutlich verbessert werden (z.B. durch den Bund mit Hilfe eines Bundesqualitätsgesetzes).
  • In Schulen sollten Schulpflegefachkräfte flächendeckend eingeführt werden. Denkbar ist hierfür eine Umsetzung im Präventionsgesetz durch den Bund.
  • Um der staatlichen Verantwortung für eine ausgewogene und gesunde Ernährung in Betreuungseinrichtungen gerecht zu werden, müssen verbindliche Richtlinien für eine qualitativ hochwertige Ernährung von Kindern und Jugendlichen in Kindertageseinrichtungen und Schulen eingeführt werden [3]. Die Bundesländer sollten für eine bundeseinheitliche Lösung eng zusammenarbeiten. Der Bund sollte hierzu Anreize setzen.

5. Geschützt und mit eigenen Rechten – Kinderschutz verbessern und Kinderrechte im Grundgesetz verankern

Im Bereich des Kinderschutzes sind zwar in den letzten Jahren mit der Etablierung des Kinderschutzgesetzes richtungsweisende Entscheidungen getroffen worden, jedoch bestehen weiterhin kritische Problemstellen.

Es ist dringend notwendig, den gesetzlichen Rahmen und die Kontrollinstanzen für die Verwirklichung der Kinderrechte insgesamt zu stärken. Sie müssen an die gesellschaftliche Entwicklung und die gestiegene Anerkennung des eigenen Stellenwertes von Kindern und Jugendlichen angepasst werden. Nur so kann die Grundlage dafür geschaffen werden, dass ihre Interessen in rechtlichen und politischen Fragen im erforderlichen Maße berücksichtigt werden. In der Stellungnahme des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes zum Stand der Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention wird daher die Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz sowie die Einsetzung von Kinderbeauftragten auf allen staatlichen Ebenen angemahnt. Darüber hinaus bedarf es einer Stärkung und Aufwertung der Kinderkommission im Deutschen Bundestag zu einem politisch wirkmächtigen Unterausschuss, um den Bedürfnissen der Kinder mehr Raum in der politischen Debatte zu geben.

Bei ernsten Fällen im Kinderschutz ist die Kommunikation zwischen den Akteuren des Gesundheitswesens (SGB V) und der Kinder- und Jugendhilfe (SGB VIII) unzureichend. Bisher ist nur die Meldung von ärztlicher Seite an das Jugendamt gesetzlich verankert, nicht jedoch der gegenseitige Austausch. Ein neues Problemfeld hat sich in den vergangenen Jahren mit der umfassenden Nutzung der modernen Medien ergeben. Kinder und Jugendliche müssen gegen die mit dem zunehmenden Medienkonsum einhergehenden kriminellen Begleiterscheinungen (Cybergrooming, Cybermobbing) wirksamer geschützt werden.

Unsere gesundheitspolitischen Forderungen:

  • Kinderrechte müssen entsprechend der Verpflichtungen durch die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen im Grundgesetz verankert werden. Dabei sollen Kinder als eigenständige Rechtssubjekte sowie der Vorrang des Kindeswohls gestärkt werden und die Rechte auf Schutz, auf bestmögliche Förderung sowie auf Beteiligung und altersangemessene Berücksichtigung der Meinung aufgenommen werden.
  • Auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene sollten Kinder- und Jugendbeauftragte eingesetzt werden. Aufgabe eines Bundeskinderbeauftragten ist es, über die Umsetzung der Verpflichtungen der UN-Kinderrechtskommission zu wachen und über die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland umfassend und unabhängig zu berichten. Außerdem sollte er beim Bundestag angesiedelt sein und Gesetzentwürfe und Entscheidungen der Exekutive dahingehend prüfen, ob sie den Rechten von Kindern und Jugendlichen entsprechen.
  • Die Kinderkommission im Deutschen Bundestag sollte zu einem politischen Unterausschuss in einer zu den anderen Unterausschüssen analogen Zusammensetzung aufgewertet werden. Ihre Zusammensetzung sollte fachübergreifend mit Vertretern/innen aus verschiedenen Ausschüssen (insbesondere Familie, Gesundheit, Bildung und Forschung) erfolgen und regelmäßige Sitzungen in jeder Sitzungswoche stattfinden.
  • Kinder- und Jugendärzte/innen und andere Beteiligte aus dem Gesundheitswesen und Berufsgeheimnisträger sollten grundsätzlich eine gesetzlich verankerte Rückmeldung in einem gemeinsam betreuten Kinderschutz-Fall erhalten.
  • Wir benötigen neue Strategien, um die Flut negativer Auswirkungen des hohen Medienkonsums Minderjähriger einzudämmen. Beim Cybergrooming sollte schon der Versuch strafbar sein.

Literatur
[1] Vgl. Stellungnahme Deutscher Ethikrat am 07.06.2016 gegenüber dem Deutschen Bundestag „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus“ (Drucksache 18/1843), S. 38 u. S. 140.
[2] Konkrete und detaillierte Vorschläge hierzu und zu den möglichen Forschungsgebieten, Aufgaben und Strukturen enthält das Konzept der Hochschulkommission der DGKJ für ein Forschungszentrum zur Verbesserung der Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (Forschungszentrum Kindergesundheit).
[3] Diese sollten unter Einbeziehung wissenschaftlicher Fachgesellschaften und deren Expertise vom Nationalen Qualitätszentrum (NQZ) für gesunde Ernährung in Kita und Schule im Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) entwickelt und überwacht werden.


Februar 2017

Dr. T. Fischbach, BVKJ e.V.
Prof. Dr. H.-I. Huppertz, DAKJ e.V.
Prof. Dr. E. Mayatepek, DGKJ e.V.
Prof. Dr. U. Thyen, DGSPJ e.V.

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (3) Seite 196-203