Die ärztliche Psychotherapie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Pädiatrie. Entscheidend ist eine psychosomatisch-psychotherapeutische Grundhaltung. Aber Anspruch und Wirklichkeit liegen hier in der Praxis weit auseinander. Wird die ärztliche Psychotherapie in der Praxis abgeschafft? Eine Einschätzung und ein Ausblick von Kinderarzt Stephan H. Nolte.
»Οὐ τὰ πράγματα ταράσσει τοὺς ἀνθρώπους, ἀλλὰ τὰ περὶ τῶν πραγμάτων δόγματα.«
Nicht die Dinge an sich beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge, die Sicht der Dinge. Epiktet [1].
Warum Psychotherapie in der pädiatrischen Sprechstunde?
Während psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten für Kinder und Jugendliche den Zugang zu ihren Patientinnen und Patienten nur durch einen Filterungsprozess verschlungener Wege erhalten, haben psychotherapeutisch geschulte Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, sofern sie am hausärztlichen Versorgungsbereich teilnehmen, einen unverstellten Zugang zum Kind und seinem Umfeld und können pädiatrischen Alltagsfragen mit psychosomatischem, ganzheitlichen Blick begegnen. So wird das Kind mit Bauchweh oder Kopfschmerzen von vornherein mit anderen Augen und auf anderen Ebenen gesehen als rein auf der somatischen. Viele Wege und Irrwege durch die medizinischen Angebote können Kindern erspart werden. Selbst bei solch kleinen Problemen wie Husten (29 % der Vorstellungsanlässe in der ambulanten Pädiatrie nach der DAKJ-Versorgungsstudie 2012 [2]) führt eine bio-psycho-sozial ausgerichtete Haltung zu ganz anderen Ergebnissen als die reine Betrachtung des Symptoms: Es macht einen Unterschied in der Wahrnehmung der Schwere eines Symptoms, ob ein Kind nachts im Elternbett der Mutter ins Ohr hustet oder ob es in einem anderen Zimmer schläft, ob der betreuende Elternteil alleinerziehend, vielleicht überfordert, reizbar und von einer Tagesbetreuung des Kindes abhängig ist oder nicht und viele andere Aspekte, die unabhängig von der gerade bestehenden Zielsymptomatik von großem Einfluss auf die Wahrnehmung, die "Sicht der Dinge" ist. Da solche vermeintlichen Banalitäten, der sprichwörtliche "Rotz und Kotz", auch Husten, Schnupfen, Heiserkeit den Alltag der pädiatrischen Tätigkeit ausmachen, werden viele Klinikärztinnen und -ärzte davon abgeschreckt, den Weg in die Praxis zu gehen.
Schutz vor Burnout
Der neugierige, am ganzen Menschen und seiner Lebenssituation interessierte Pädiater wird dadurch einigermaßen vor dem Burnout geschützt, dass er vom zwanzigsten oder dreißigsten hustenden Kind an einem Vormittag nicht "schon wieder Husten", sondern ein Individuum in seinem sozialen Gefüge wahrnimmt und sich dafür interessiert, wie und warum seine Umgebung auf die Zielsymptomatik reagiert. Das ist nur dann sinnvoll und befriedigend, wenn man die Familie kennt, sich für einen roten Faden im Miteinander interessiert, für die ihm anvertrauten Kinder und auch für sich selbst [3]. In der Notdienst-Medizin wird das kaum möglich sein.
Anspruch und Wirklichkeit
Wir haben, man muss schon fast sagen, wir hatten, als pädiatrische Fachgruppe in den letzten Jahrzehnten viel aufgebaut an ambulanter Medizin, an Vorsorgeprogrammen, Impfprogrammen und Konzepten. Neue Themen wie Jugendmedizin, "neue Morbiditäten", Transition und viele andere sind dazugekommen und haben viele Gedanken und Konzepte, Tagungen, Kongresse und Arbeitsgruppen hervorgebracht. Wir sollen in die Geburtskliniken, in die Kitas und Kindergärten, in die Schulen und in die Öffentlichkeit gehen, von den Frühen Hilfen bis in die Medien. Viele Pädiaterinnen und Pädiater haben an Fortbildungen zur Sozialpädiatrie und Kursen in "psychosomatischer Grundversorgung" – eines der Unwörter der Medizin – teilgenommen, Balint-Gruppen besucht und gar neben ihrer Praxis die mindestens 3-jährige psychotherapeutische Weiterbildung absolviert. Der Focus auf Kultursensibilität und das Anders-Sein haben vielen Kolleginnen und Kollegen die Augen und Ohren geöffnet und weite, zu beackernde Betätigungsfelder aufgetan. Netzwerke wie etwa die der Frühen Hilfen, der Jugendhilfe oder die örtlicher Gesundheitsnetze haben sich eröffnet und fordern unseren pädiatrischen und psychosozialen Sachverstand.
»Wir haben hohe Ansprüche an uns und die Pädiatrie, die uns vorschwebt. Wir wollen "sehr gut" sein, müssen uns aber mit "ausreichend" zufriedengeben (SGB V). Die Realität sieht zudem so aus, dass wir in den Praxen mit Vorstellungsanlässen derart überschwemmt werden, dass wir Fünf-Minuten-Medizin praktizieren und die Kinder "durchschleusen" müssen. Diese Tendenz scheint perspektivisch unumkehrbar.«
Dr. Stephan Heinrich Nolte
Phänomen "Eintrittskarte"
Oft ist es ein vorgeschobenes Symptom oder eine geringfügigere Beschwerde, mit der Patientinnen und Patienten testen, ob sie auch für tiefergehende Probleme ein offenes Ohr finden. Da geht es dann nicht um die Warze oder den nächtlichen Husten, sondern um die Vorwürfe der Schwiegermutter oder den allgemeinen Erschöpfungszustand, die oft erst dann zur Sprache kommen, wenn der Vorstellungsanlass abgearbeitet ist. Diese Botschaften hören wir wohl, und haben es in der Hand, den Ball aufzufangen oder abprallen zu lassen.
Die Realität ist jedoch, dass wir in den Praxen mit Vorstellungsanlässen derart überschwemmt sind, dass wir zur Fünf-Minuten-Medizin zurückkehren und die Patientinnen und Patienten "durchschleusen" müssen. So klafft die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander. Wir müssten so viel machen, sehen so viel Bedarf und Notwendigkeit, haben gute Vorstellungen, wie es sein sollte und könnten – aber es geht nicht mehr. Wir müssen sortieren und delegieren – zumeist an psychologische Psychotherapeuten, denen es aber an pädiatrischem und klinischem Wissen und Einordnung fehlt und die deshalb nicht selten die Patientinnen und Patienten zur weiteren somatischen Abklärung zurückdelegieren oder gar woanders hinschicken, weil ihnen oft der Zugangsweg nicht bekannt ist, der die Familie zu ihnen geführt hat. Eine Rückmeldung erfolgt ohnehin nicht. So verlieren wir den roten Faden.
Die personellen Ressourcen sind am Ende
Die Zahl aller gemeldeten Ärztinnen und Ärzte in Deutschland stieg 2023 um 2 % auf rund 569.000 Personen. Bei den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten setzt sich der Rückgang der vergangenen Jahre fort: In 5 Jahren hat sich deren Anzahl um nahezu 8 % verringert. Dem gegenüber steht in diesem Zeitraum aber ein starker Anstieg von 51 % an angestellten Ärztinnen und Ärzten im ambulanten Bereich. Inzwischen sind rund ein Drittel aller Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Versorgung als Angestellte in Praxen oder Medizinischen Versorgungszentren tätig [4]. Das gilt auch für die Kinderheilkunde: Zwar ist die Gesamtzahl der niedergelassenen Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte mit 8.346 (Stand 31. 12. 2023) auf einem Allzeithoch, schaut man sich aber die Altersverteilung an, lässt sich nichts Gutes ahnen: Über 50 Jahre alt sind zwei Drittel, über 60 ein gutes Drittel der Niedergelassenen. Der ständig ansteigende Frauenanteil liegt bei knapp 60 %. Je jünger die Menschen, desto mehr Frauen, die mehr in Teilzeit und Anstellung arbeiten, mit dem Ergebnis, dass mehr Ärztinnen zu weniger Teilnahmeumfang führen. Diese Tendenz ist unumkehrbar, weil der in Ausbildung befindliche ärztliche Nachwuchs einen noch größeren Frauenanteil hat. Die durchschnittliche Lebensarbeitszeit liegt bei Männern bei 41,4 Jahren, während sie bei den Frauen bei 37,7 Jahren liegt. Die durchschnittliche Erwerbstätigkeit in Deutschland liegt bei Frauen bei 16, bei Männern bei 24 Wochenstunden [5].
Dass Frauen trotzdem mehr arbeiten als Männer steht auf einem anderen Blatt: 30 Stunden unbezahlte Arbeit in Haushalt und Kinderbetreuung gegenüber 20 bei Männern, und wenn Kinder unter 6 Jahren im Haushalt sind, arbeiten die Frauen fast 50 Stunden – und die Erwerbstätigkeit rutscht damit auf 13 Stunden. Diese Zahlen sind Durchschnittswerte für Deutschland, die im Einzelfall natürlich ganz anders aussehen, aber eines zeigen: Es ist völlig klar, dass pädiatrische Praxen in Zukunft weit weniger leisten werden als in der Vergangenheit, eine Tendenz, die schon lange anhält. Der ursprünglich als Kompensation für die Samstagssprechstunde gedachte freie Mittwochnachmittag wird längst nicht mehr als solcher angesehen, und der Freitag ist, wie der Name schon sagt, der neue Samstag. Dadurch werden die Zeiten, die durch organisierte Notdienste abgedeckt werden müssen, immer mehr – und sind schon jetzt nicht mehr abzudecken, nicht zuletzt wegen des Mangels an Medizinischen Fachangestellten. Das alles war und ist vorhersehbar und muss einkalkuliert werden.
Unsere Praxen finden keine Nachfolger
Das unternehmerische Risiko ist zu groß, die Unwägbarkeiten, die Personalfragen, die Bürokratie, die formalen Anforderungen, der Innovationszwang der IT-Industrie und die allgemeine Kostensteigerung. Die ärztlichen Selbstverwaltungen stecken in einer Zwickmühle zwischen ihren Aufgaben als Körperschaften des öffentlichen Rechts und ihren Mitgliedern, was dazu führt, dass "unsere KVen", also "wir", zunehmend als Gegner betrachtet werden. Dazu kommt die Selbstverständlichkeit der Erwartungen der Patientinnen und Patienten und in vielen Fällen deren Undankbarkeit. Im letzten Jahr kursierte in Anlehnung an die Weissagungen der Cree der Satz:
»Erst wenn die letzte Praxis geschlossen hat, werdet Ihr merken, dass man Gesundheit nicht googeln kann!«
Infoblatt Landesverband Hessen des BVKJ, 2022
Die neuen Medien und Informationsmöglichkeiten haben das Vorwissen zwar erheblich erweitert, der Beratungsbedarf ist dadurch aber nicht gesunken, sondern steigt weiter an. Denn es geht nicht darum, möglichst viel Information zu haben, sondern sie einzuordnen, zu werten und auf den persönlichen Einzelfall anzuwenden. Hier liegen die ärztlichen Aufgaben der Zukunft. Stattdessen werden wir zu unumgänglichen Zwangs-Durchgangsdienstleistern (Pflichtvorsorgen, Pflichtimpfungen, Atteste aller Art) degradiert. Wie soll das alles gehen?
Was dem Hamsterrad als erstes zum Opfer fällt, ist die vorausschauende Beratung
Wir wissen sehr wohl, was Eltern erwartet: vom ersten Fieber und vom ersten Sturz bis zur Infekthäufung bei Besuch einer Gemeinschaftseinrichtung. Mit einer entsprechenden Beratung lassen sich im Vorfeld Ängste nehmen und manches Aufsuchen einer Notdiensteinrichtung verhindern. Jeder Arzt-Patienten-Kontakt, insbesondere jede Vorsorge, sollte Anlass zu einer entsprechenden Beratung sein. Die Unterstützung und Förderung der Selbstwirksamkeit der Eltern hilft diesen im Umgang mit den alltäglichen Zufällen und sollte dazu führen, die Ärztin bzw. den Arzt mit Banalitäten zu verschonen, damit mehr Zeit für Wichtigeres bleibt. Dieser Zeitaufwand zahlt sich aus. Die meiste Zeit haben werdende Eltern vor der Geburt, und diese Zeit sollten wir im Sinne einer "Pränatalen Prävention" nutzen. Die "Eintrittskarte" hierzu könnte die notwendige ärztliche Aufklärung zum Neugeborenen-Screening sein. Verheißungsvolle, wenn auch inhaltlich problematische Ansätze sind die Bemühungen um eine U0 (U Null), einen formalen vorgeburtlichen Kontakt [6]. Denn wenn der Erstkontakt erst bei der Vorsorge U3 mit seiner medizinischen Überfrachtung erfolgt, bleibt für ein ruhiges Kennenlernen vor lauter anderen Inhalten kein Raum. Unter weiteren, externen Faktoren wie einem schreienden Kind, einer vollen Windel oder einer gespannten Brust kann kaum erwartet werden, dass viel von Aufklärung und Beratung hängenbleibt.
Ist eine psychotherapeutische Weiterbildung noch zu empfehlen?
Obwohl klar ist, dass eine psychosomatisch-psychotherapeutische Grundhaltung im kinder- und jugendärztlichen Alltag unverzichtbar ist oder sein sollte, kann der Aufwand der psychotherapeutischen Zusatzausbildung außer zum eigenen persönlichen Gewinn jungen Ärztinnen und Ärzten nicht empfohlen werden. In Deutschland sind fast 18.000 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzbezeichnung "Psychotherapie" bei den Kammern registriert [7]. Diese sind überwiegend in der Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder psychosomatischen Medizin tätig; Fächer, in denen seit einigen Jahren die psychotherapeutische Fortbildung integriert ist. Die externe Zusatzweiterbildung in anderen Fachrichtungen ist nicht nur teuer, sondern selten geworden. So hat in Hessen in den letzten Jahren jeweils nur eine einzige Pädiaterin diese Fortbildung absolviert; Daten der Bundesärztekammer liegen nicht vor [8]. Dieses Randgebiet und dessen Bedeutung werden in Darstellungen über Ärztliche Psychotherapeuten, deren Qualifikation über ein Medizinstudium und anschließende Fort- und Weiterbildungen erfolgt, überhaupt nicht erwähnt [9].
Die ärztliche Psychotherapie in der Kinderheilkunde ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Pädiatrie, selbst wenn sie sich in den Zahlen der Antrags-Psychotherapie gar nicht niederschlägt. Entscheidend ist die psychosomatisch-psychotherapeutische Grundhaltung, die alle Bereiche der Medizin durchziehen sollte. Bekanntlich geht es überall in der Medizin um menschliche Beziehungen und, wie im Eingangszitat gesagt, über die Meinungen und Sichtweisen zu den vermeintlichen biologischen Fakten. In der Trias "Beziehung – Klärung – Problembewältigung" steht nicht nur in der Psychotherapie, sondern in allen medizinischen Bereichen unverändert der Beziehungsaspekt an erster Stelle, der den bestehenden Strukturen und zukünftigen Veränderungen als erstes zum Opfer zu fallen und dem Computer überlassen zu werden droht.
Unterbewertung des Beziehungsaspekts ärztlicher Tätigkeit
Die derzeitige Strategie in der Gesundheitspolitik besteht darin, den Bereich Telemedizin weiter auszubauen, anstatt mehr Geld in die Steigerung der Attraktivität einer sprechenden Medizin zu stecken. Offensichtlich ist die Sprechende Medizin, die Beziehungsmedizin, gegenüber technisierten Verfahren und Apparatemedizin in dem Sinne zu "billig", sodass dadurch kein Umsatz generiert wird, auch ist ihre Qualität nicht gut objektivierbar. Da der Staat über die Mehrwertsteuer am Umsatz der gesamten Gesundheitswirtschaft ohne Gegenleistung zu fast einem Fünftel beteiligt ist [10], kann er an einer "den Preis werten Medizin" kein wirkliches Interesse haben. Denn ärztliche Leistungen sind von der Mehrwertsteuer ausgenommen. Ob das ein Geheimnis des Niedergangs ärztlicher Psychotherapie ist?
Dieser Artikel erschien zuvor in ähnlicher Form in "Ärztliche Psychotherapie":
Nolte SH (2025) Vom Wünschenswerten und Leistbaren der ärztlichen Psychotherapie in der Kinder- und Jugendmedizin. Ärztliche Psychotherapie 20: 86 – 90. DOI 10.21706/aep-20-2-86
Für den angepassten Nachdruck in der "Kinderärztlichen Praxis" bin ich (Dr. Nolte) Frau Dr. Corinna Sigmund und dem Schattauer-Verlag zu Dank verpflichtet.
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (6) Seite 448-452
