Die im Jahr 2016 veröffentlichte S3-Leitlinie zur Diagnose der Fetalen Alkoholspektrumstörungen (FASD) wurde hinsichtlich der Diagnostik umfassend aktualisiert und um Interventionen erweitert. Diese aktuelle S3-Leitlinie "Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) bei Kindern und Jugendlichen – Diagnostik & Intervention" wurde jetzt im Leitlinienregister der AWMF publiziert. Neuerungen, Ziele und praktische Bedeutung für Kinderärztinnen und Kinderärzte im Überblick.
Zentrale Neuerungen im Überblick
Bei der Aktualisierung der Prävalenzangaben zum mütterlichen Alkoholkonsum wurden auch nichteuropäische Studien und Biomarker-Studien einbezogen. Die weltweite Prävalenz des Alkoholkonsums während der Schwangerschaft wird laut aktuellen Forschungen auf 8 – 9 % geschätzt [1]. Die Überarbeitung der FASD-Prävalenz erfolgte zweigeteilt: einerseits durch eine international ausgerichtete Literaturrecherche, andererseits mit besonderem Fokus auf Daten aus Deutschland (FASD-Prävalenz global: ca. 0,77 %; in Deutschland: ca. 2,03 % [2]).
Die revidierten S3-Leitlinienempfehlungen beinhalten (wie in der vorherigen Fassung) die 4 diagnostischen Hauptsäulen zur Beurteilung einer FASD:
- Wachstumsauffälligkeiten,
- faziale Anomalien,
- ZNS-Auffälligkeiten und
- pränatale Alkoholexposition.
Neu ist die verstärkte Betonung, dass alle 4 Säulen vollständig erfüllt sein sollen, um ein Fetales Alkoholsyndrom (FAS) zu diagnostizieren. Die S3-Leitliniegruppe berücksichtigt, dass die für FASD typischen fazialen Merkmale mit dem Alter an Deutlichkeit verlieren können und weist in ihrer Empfehlung explizit darauf hin, dass entsprechende Auffälligkeiten auch dann in die Diagnostik einfließen können, wenn sie zu einem früheren Zeitpunkt dokumentiert wurden. Das diagnostische Kriterium der "kurzen Lidspalten" wurde entsprechend der vorhandenen Lidspaltenperzentilenkurven zur besseren Verständlichkeit als mind. 2 Standardabweichungen unter der Norm bzw. an/unter der 3. Perzentile beschrieben. Im Bereich der "funktionellen ZNS-Auffälligkeiten" (ZNS = zentrales Nervensystem) wurde das bisherige Kriterium "Feinmotorik" (bei FAS) bzw. "Fein-/Graphomotorik oder grobmotorische Koordination" (bei pFAS und ARND) einheitlich zu "Feinmotorik und Koordination" geändert. Zudem wurde die bisher verwendete Bezeichnung "räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten" durch den medizinisch etablierten Begriff "visuell-räumliche Funktionen" ersetzt. Als wichtige inhaltliche Änderung wurde das Kriterium der "strukturellen ZNS-Auffälligkeiten" überarbeitet: Eine Mikrozephalie gilt als für FASD diagnostisch relevant bei einem Kopfumfang ≤ 10. Perzentile. Darüber hinaus wird das Kriterium ebenfalls als erfüllt angesehen, wenn eine globale oder regionale strukturelle ZNS-Malformation vorliegt. Tabelle 1 zeigt einen Überblick über die Diagnosekriterien bei FASD gemäß der aktuellen S3-Leitlinie.

Neben der Diagnostik enthält die aktualisierte S3-Leitlinie evidenzbasierte Empfehlungen und Expertenkonsensus zu Interventionsmöglichkeiten bei Kindern und Jugendlichen mit FASD. Diese Erweiterung der S3-Leitlinie um evidenzbasierte Interventionsempfehlungen stellt ein Alleinstellungsmerkmal im internationalen Vergleich dar. Die S3-Leitlinie geht "Outcome-orientiert" vor, sodass abhängig von der gewünschten Zielgröße unterschiedliche Interventionsformen für erkrankte Kinder und deren Familien empfohlen werden – wie neurokognitive Trainings, Verhaltenstrainings, medikamentöse Behandlungen und psychoedukative Maßnahmen.
Tabelle 2 bietet einige ausgewählte Interventionsempfehlungen. Alle konsentierten Empfehlungen und Expertenkonsensus sind detailliert in der S3-Leitlinie inklusive Hintergrundinformationen zu finden.
Ziel der Aktualisierung
Die S3-Leitlinienüberarbeitung verfolgte zwei Hauptziele: Zum einen soll mithilfe aktueller, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauender Empfehlungen eine frühzeitige, deutschlandweit einheitliche und möglichst präzise Diagnose der FASD bei Kindern und Jugendlichen ermöglicht werden. Zum anderen soll durch die Bereitstellung konkreter Interventionsempfehlungen für an FASD erkrankte Kinder und ihre Familien die Versorgung verbessert werden. Dadurch sollen ineffektive Therapien vermieden, Folgeerkrankungen möglichst reduziert und die Langzeitprognose verbessert werden.
Ein weiterer Fokus lag auf der Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit und Patientenzentrierung. Hierzu wurde die Leitlinien-Version von 2016 durch eine Online-Befragung der Anwenderzielgruppe evaluiert und die Ergebnisse bei der Entwicklung der neuen S3-Leitlinie berücksichtigt.
Darüber hinaus wurden in einer Gruppendiskussion (sog. Fokusgruppe) mit an FASD erkrankten Kindern und Jugendlichen deren Bedürfnisse und Wünsche für die Diagnostik und Intervention erhoben und in die Entwicklung von Empfehlungen und Expertenkonsens einbezogen.
Für eine bessere Implementierung und praktische Nutzung der S3-Leitlinie wurde zusätzlich zu den bereits etablierten Formaten (Langfassung, Kurzfassung, Leitlinienreport, Pocket Guide) erstmals eine leicht verständliche Patientenleitlinie entwickelt. Sie dient als Informationsangebot für Eltern und Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen mit FASD.
Nutzen der neuen S3-Leitlinie für Pädiaterinnen und Pädiater
Mit der neuen S3-Leitlinie "Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) bei Kindern und Jugendlichen – Diagnostik & Intervention" liegt erstmals eine umfassende, evidenz- und konsensbasierte Leitlinie für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit FASD vor. Sie bietet konkrete Orientierungshilfe und einfache praktische Anwendbarkeit – von der Diagnostik über geeignete Interventionsmaßnahmen bis hin zur interdisziplinären Vernetzung.
Pädiaterinnen und Pädiater erhalten damit ein wertvolles Instrument, um erkrankte Kinder frühzeitig zu identifizieren, zu diagnostizieren, adäquat zu therapieren und nachhaltig zu unterstützen.
AWMF-Registernummer: 022 – 025, Version 4.0 (Stand März 2025)
Autoren: Sonja Strieker, M. Sc., Prof. Dr. med. Florian Heinen, Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Mirjam N. Landgraf
Federführende Fachgesellschaft: Gesellschaft für Neuropädiatrie e. V. (GNP)
Förderung: Das der S3-Leitlinie zugrundliegende Projekt wurde mit Mitteln des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Förderkennzeichen 01VSF21012 gefördert.
- Langfassung: https://register.awmf.org/assets/guidelines/022-025l_S3_Fetale-Alkoholspektrumstoerungen-FASD-Kinder-Jugendliche-Diagnostik-Intervention_2025-06.pdf
- Kurzfassung: https://register.awmf.org/assets/guidelines/022-025k_S3_Fetale-Alkoholspektrumstoerungen-FASD-Kinder-Jugendliche-Diagnostik-Intervention_2025-06.pdf
- Leitlinienreport: https://register.awmf.org/assets/guidelines/022-025m_S3_Fetale-Alkoholspektrumstoerungen-FASD-Kinder-Jugendliche-Diagnostik-Intervention_2025-06.pdf
- Patientenleitlinie: https://register.awmf.org/assets/guidelines/022-025p1_S3_Fetale-Alkoholspektrumstoerungen-FASD-Kinder-Jugendliche-Diagnostik-Intervention_2025-06.pdf
- Pocket Guide:https://register.awmf.org/assets/guidelines/022_Ges_fuer_Neuropaediatrie/022-025pg2025_S3_Fetale-Alkoholspektrumstoerungen-FASD-Kinder-Jugendliche-Diagnostik-Intervention_2025-06.pdf
Internationale Veröffentlichungen zur Leitlinie (2024):
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (6) Seite 442-447
