Kinderarzt Dr. Markus Landzettel erklärt, warum die Umsetzung von Leitlinien im Praxisalltag oft schwierig ist, sich ein Blick in die Leitlinien aber dennoch lohnt.

Nun gilt es also für uns Pädiater in der Praxis, die in Weimar beim 22. Kongress der Jugendmedizin erhaltenen Anregungen zu den Leitlinien umzusetzen.

Dies ist ein schwieriges Vorhaben, denn Ärzte sind zähe Wesen: In all den Jahren der Facharztausbildung wurden Vorgehen in Diagnostik und Therapie eingeübt. In den Jahren der Niederlassung diese dann an die Praxisgegebenheiten angepasst. Nun fährt man mit diesem entwickelten Regime gut – so denkt man zumindest. Und das Anpassen oder Nachjustieren an die in den Leitlinien propagierten Vorgehensweisen kann ja nicht so schwierig sein – oder doch? Was ist hierbei Evidenz, was ist Bauchgefühl und was ist eigene Erfahrung? Ein schmaler Grat für uns in der Praxis.

Richten wir zunächst mal den Blick in das Autorenverzeichnis der AWMF-Leitlinien. Erste Feststellung: Es sind meist kaum niedergelassene Kollegen an der Entwicklung beteiligt; nicht einmal der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (z. B. SES/SSV). Immerhin sind wesentliche pädiatrische Fachgesellschaften beteiligt: zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V. (DGKJ), die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie e. V. (DGPK), die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e. V. (DGSPJ), die Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin e. V. (GNPI), die Gesellschaft für Neuropädiatrie (GNP), die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP), die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) und sogar die Deutsche Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde. Das ist schon beachtlich. Aushängeschilder für eine leitorientierte Pädiatrie in der niedergelassenen Praxis sind diese Gesellschaften aber kaum. Denn der universitäre Blickwinkel ist eben oft ein anderer als der Blickwinkel aus der Praxis heraus.

Hinzu kommt: Viele der Leitlinien sind mit großem Enthusiasmus vor einigen Jahren entwickelt worden, haben nun aber ihr Haltbarkeitsdatum überschritten, ohne dass eine Aktualisierung erfolgt ist (z. B. Asthma). Was bedeutet das eigentlich, wenn eine Leitlinie aus diesem Grund gar nicht mehr dem aktuellen Stand des Wissens entspricht? Und um wieder auf den Kongress in Weimar zurückzukommen: Kaum finden sich Leitlinien für Themen speziell für die Jugendmedizin. Bei einer Stichwortsuche ("Pubertät") finden sich meist nur Verweise auf die Kinder- und Jugendzeit, nicht jedoch explizite Empfehlungen für das Jugendalter.

Dann ist da noch die Abstufung in verschiedene Evidenzgrade. Es fehlen oft die Mittel (finanzielle Mittel, Manpower), um hohe Evidenzgrade aus der niedergelassenen Perspektive zu entwickeln. Die Erkenntnisse werden zumeist aus gesponserten Studien gezogen und von Eminenzen zusammengetragen. Dann ist da noch das Problem, dass es keine nationalen Angaben gibt und Vorgehensweisen aus anderen Ländern (z. B. Autismus) herangezogen werden und diese dann an nationale Verhältnisse angepasst werden. Aber weiß man denn genau, welche Interessen sich vielleicht dahinter verbergen?

Und dennoch lohnt sich der Blick in die Leitlinien. Denn dieser kann helfen, die eingeübten Vorgehensweisen zu überprüfen, die eine oder andere Anregung zu übernehmen oder mit dem eigenen Erfahrungswissen abzugleichen. Schließlich ist die Medizin ja derart im Fluss, dass auch wir Niedergelassene unsere (eingefahrenen) Strategien immer wieder kritisch überdenken sollten.

Dr. Markus Landzettel, Darmstadt


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2016; 85 (4) Seite 214