Worin besteht verlässliche, beständige Elternarbeit? Dr. Sandner betrachtet das Thema Erziehung aus seiner Perspektive als Kinder- und Jugendarzt heraus.

Unseren Heranwachsenden von heute geht es besser als jeder Generation zuvor – eigentlich. Abgesehen von den Ausnahmen, die wir als ambulant tätige Pädiater auch gut kennen, leben sie in Wohlstand. Sie haben Eltern, die sich um ihr Seelenheil sorgen, sollen individuell gefördert, ferner in ihrer Kreativität unterstützt und auf dem Lebensweg liebevoll begleitet werden.

Um keine Generation wurden sich je so ausgiebig Gedanken gemacht wie um diese. Solches macht vor den Anforderungen unseres Praxisalltages nicht halt, wo es bekanntlich an manchen Tagen eher zu den Schwierigkeiten gehört, die wirklich kranken Kinder „herauszufischen“. Doch um die somatischen Probleme soll es vorrangig an dieser Stelle gar nicht gehen, sondern vielmehr um die Empfindungen von vielen Kindern, die ihre Welt – die den Erwachsenen so heil und sorgenfrei vorkommt – als labil und unsicher erleben. Kinder also, die von einer Fülle materieller Dinge umgeben sind und doch Leere verspüren.

Für die ein Leben, in dem es wenig Regeln gibt, dazu noch vieles beliebig und flexibel erscheint, kein Schlaraffenland ist, sondern ein bedrohliches Schattenreich. Hieraus erwächst bei vielen Heranwachsenden nicht selten ein bunter Strauß von Störungsmustern, die manchmal bereits bei den Früherkennungsuntersuchungen im beginnenden Kindergartenalter festzustellen sind. Hinzukommt nach eigenem Eindruck eine – gefühlt hohe – Dunkelziffer für psychisch-mentale Vernachlässigung zahlreicher Kinder. Wir sehen heute allzu viele Kinder, denen das fehlt, was früher noch zu den Selbstverständlichkeiten gehörte.

So zeigen gängige Statistiken auf, dass die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern zusammen sind, im Vergleich zu früheren Jahrzehnten nicht abgenommen hat. Dank moderner Technik in den Haushalten verbringen selbst berufstätige Mütter heute so viel Zeit mit ihrem Nachwuchs wie frühere Vollzeit-Hausfrauen. Jedoch sind Eltern im wahren Leben für ihre Kinder oft nur körperlich anwesend, psychisch schweben die Erwachsenen – geistig abwesend – auch nach Feierabend noch in anderen Sphären, so dass es eigentlich kaum auffällt, wenn ein Fünftklässler mit WhatsApp & Co. permanent „on“, also online ist… Viele sind sich dessen gar nicht bewusst.

Als weit verbreiteter Irrtum entpuppt sich, dass Kinder mehr Freiraum zur Entfaltung bräuchten. Tatsächlich aber sehnen sie sich nach Berechenbarkeit und Halt, während viele Erwachsene große Schwierigkeiten haben, ihren Kindern einen festen Rahmen vorzugeben – oftmals einfach nur aus Verunsicherung oder größter Sorge, Fehler zu begehen. Daraus resultierende Vermeidungshaltungen ziehen eher nicht nachvollziehbare Regeln für die Erziehung nach sich. Einer gewissen Willkür sind Tür und Tor geöffnet – und damit das Gegenteil von Verlässlichkeit.

Dieses Wort ist bestimmt viel griffiger und für die Beratung in Elterngesprächen oft mehr verständlich als die früher meistens propagierte These einer „konsequenten Erziehung“, obwohl letztlich dasselbe gemeint ist. Viele Eltern sind durchaus dankbar dafür, den kinder- und jugendärztlichen Rat mit auf den Weg zu nehmen, dass der Nachwuchs klare Ansagen und Regeln benötigt, an denen er sich bisweilen auch gerne einmal reiben darf. Dieses ist im Familienalltag nicht gerade „­easy going“, aber wir dürfen uns als Anwalt der Kinder sehr wohl die Freiheit herausnehmen zu betonen: Erziehung ist Arbeit!

Verlässliche, ja beständige Elternarbeit eben, die unter anderem darin besteht, den schwierigen Grat immer wieder zu finden, auf die Einhaltung von Regeln zu achten, nachdem entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen sind. Verständlich ist auch die plakative Rolle von Eltern als Bestimmer. Weil Kinder zwar gleich würdig, aber nicht gleichwertig sind. Somit dürfen sie vor allem kein Partnerersatz sein, wozu sie oft von Alleinerziehenden, aber auch in Patchwork-Familien gemacht werden (problembeladene Parentifizierung!).

Im Sinne solider pädiatrischer Präventionsarbeit werden zunehmend unsere Akzente für die beschriebenen Inhalte gefragt sein.



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Dr. Bernhard Sandner


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2015; 86 (2) Seite 70