Ein neuer Expertenrat drängt darauf, die zunehmende Chancenungleichheit von Kindern anzugehen und appelliert an die neue Bundesregierung. Die unterbreiteten Lösungsansätze sollen in aktives Handeln umgesetzt werden. Ziel ist eine chancengerechte Kindesentwicklung von Anfang an.

Hintergrund und Initiative

Ein neuer interprofessioneller Expertenrat auf Bundesebene fordert gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit: Die bereits im frühen Kindesalter angelegte Chancenungleichheit hat gewaltige Dimensionen angenommen und nimmt weiter zu. Die neue Bundesregierung sollte daher alle Maßnahmen intensivieren, um die Frühe (Gesundheits-)Bildung zu stärken.

Schon frühzeitig werden dabei die Chancen für ein gesundes Aufwachsen und einen adäquaten Bildungsabschluss verspielt. Jährlich erreichten daher in Deutschland über 50.000 Kinder und Jugendliche keinen Hauptschulabschluss. Ganz überwiegend kommen diese aus L-SES-Familien (Familien des unteren sozioökonomischen Status). Weitere daraus resultierende Folgen sind Störungen der sprachlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung bereits in der frühen Kindheit. Der Gesellschaft entstünden dabei erhebliche materielle Kosten und immaterielle Schäden weit über den Gesundheits- und Bildungssektor hinaus.

Zwar existierten bereits eine ganze Reihe für die frühe Kindheitsphase wichtige Hilfe- und Unterstützungseinrichtungen wie die Frühen Hilfen, Familienzentren, interdisziplinären Frühförderstellen, Sozialpädiatrische Zentren, Jugendämter, subsidiäre Gesundheitsdienste oder Kindertageseinrichtungen. Dennoch manifestierten sich seit Jahren die frühkindlichen Entwicklungsdefizite der sozioökonomisch benachteiligten Kinder. "Die Kluft zwischen frühkindlich gut entwicklungsgeförderten und schlecht geförderten Kindern in Hinblick auf ihre Fähigkeiten-Entwicklung nimmt sogar nach den Daten neuerer Einschuluntersuchungen noch zu", moniert der Berliner Pädiater Dr. Ulrich Fegeler, auf dessen Initiative hin der Expertenrat gebildet wurde. Verantwortlich für die unzureichenden Entwicklungsanregungen der betroffenen Kinder sei die schon lange bestehende Unterfinanzierung zentraler entwicklungsfördernder Einrichtungen sowie deren unzureichende Ausstattung, die die dringend notwendige qualitativ hochwertige Betreuung und eine individuelle Entwicklungsanregung kaum ermögliche.

Die bundesweite Gruppe von Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen der Pädiatrie, der Wissenschaft, dem Journalismus sowie verschiedenen Institutionen und Verbänden appelliert insbesondere an alle neuen Bundestagsmitglieder mit den Themenschwerpunkten Gesundheit, Familie, Bildung und Soziales, sich dieser wichtigen Herausforderung zu stellen und auch die von den Expertinnen und Experten unterbreiteten neuen Lösungsansätze in aktives Handeln umzusetzen.

Lösungsansätze
Unter Federführung und Koordination von Dr. Ulrich Fegeler fand über mehrere Monate hinweg ein intensiver Austausch statt. Im neu als Arbeitsgemeinschaft aufgestellten Expertenrat ist eine Vielfalt von Professionen, Expertisen, Institutionen und Sichtweisen vertreten, diese galt es, in einem konkreten Forderungs- und Vorschlagskatalog zu bündeln. Nach einem intensiven Erörterungsprozess wurden folgende Lösungsansätze formuliert:
  • aufsuchende Betreuung der betroffenen Familien durch kompetente Sozialraumlotsen zur kontinuierlichen familiären Beratung, Terminbegleitung etwa zu den Kindervorsorgen oder für die U3-Kitaplatzbeschaffung;
  • Umsetzung des Anspruchs auf frühzeitige frühkindliche Förderung im medizinischen wie auch nicht medizinischen Kontext;
  • Verbesserung der Qualität frühkindlicher Förderung und Vernetzung der Angebote;
  • quantitativer und qualitativer Ausbau der U3-Kita-Plätze;
  • konsequentere Umsetzung der Inklusion;
  • bedarfsgerechte Mittelerhöhung für die Frühen Hilfen.

Hierzu gibt es bereits optimistisch stimmende Ankündigungen. Das Autorenteam appelliert, die vielen erfolgreichen Aktivitäten auf allen föderalen Ebenen gebündelt in den Blick zu nehmen. Eine solche offene Betrachtungsweise und Bündelung kann dazu beitragen, Synergieeffekte zu erzielen und Ressourcen zu sparen.

Eine genauere Analyse der bestehenden Situation, eine vertiefende Erläuterung der Verbesserungsvorschläge sowie eine Langfassung des Offenen Briefs ist zu finden unter www.deutsches-kinderbulletin.de, Kontaktadresse: Dr. Ulrich Fegeler: ul.fe@t-online.de.

Weichenstellungen auf bundespolitischer Ebene

Viele alte und neue Bundestagsabgeordnete werden in der neuen Legislatur in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Familie gestaltend sein; sie wurden über die Ausschussvorsitzenden adressiert. Die Kinderkommission hat sich nach aktuellem Kenntnisstand noch nicht konstituiert. Ein entscheidendes Gremium auf Bundesebene ist die Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) als Fachgremium der für die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik zuständigen Ministerinnen und Minister sowie Senatorinnen und Senatoren der Länder. Ihr obliegt die Beratung politischer Entscheidungsträger zu grundlegenden Angelegenheiten der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik.

Die JFMK hat im Vorsitzland Hamburg getagt und in ihrer Pressemitteilung vom 23. 05. 2025 für mehr Prävention in der Kinder- und Jugendhilfe plädiert. Diese solle stärker mit den Schulen, den Sozialhilfeträgern sowie dem Gesundheitssystem zusammenarbeiten. "Wir müssen agieren, bevor Probleme sich dauerhaft verfestigen" fordert Hamburgs Bildungs-, Jugend- und Familiensenatorin Ksenija Bekeris und fordert für präventive Strategie einen multiprofessionellen Ansatz. Der Aufbau kommunaler Präventionsketten und qualitätssteigernde Maßnahmen in der Kindertagesbetreuung werden als wichtige Module genannt. Bundesjugendministerin Karin Prien legt den Fokus auf Bildung und konkretisiert: Die Gestaltung guter Bildung müsse "vom Kind aus gedacht" werden und "nicht aus der Logik von Systemen" erfolgen. Das beginne "bei der frühkindlichen Bildung in Familien und Kita" und erfordere ein neues Miteinander von Bund, Ländern und Kommunen. Unerlässlich sei künftig "eine Debatte über Fragen der Generationengerechtigkeit".

Auf dem Boden eines solchen Grundverständnisses kann der Expertenrat vorsichtig optimistisch sein. Wenn diese Vorstellungen horizontal und vertikal Raum greifen, könnten gemeinsam effektive Strategien entwickelt werden. Dabei können die formulierten Ansätze dazu beitragen, Ziele zu konkretisieren und zu operationalisieren.

Ein konkretes Beispiel: der Mikrozensus des Instituts der Deutschen Wirtschaft "IW" weist aus, dass von 2011 bis 2021 der Anteil der Minderjährigen mit Eltern ohne berufsqualifizierenden Abschluss von 11,4 auf 17,6 % gestiegen ist. Analysen zeigen, dass sich Bildungsferne über Familiengenerationen hinweg fortsetzt, und das mit einer gesteigerten Dynamik.

Nun wurde im Kabinett von Bundeskanzler Merz der Bereich Bildung aus dem Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt herausgelöst und auf das BMFSFJ übertragen. Diese Veränderung könne für das Anliegen des Expertenrats besondere Bedeutung bekommen: Dadurch, dass im für Familie zuständigen Ministerium Bildung "mitgedacht" und frühe Bildung (mit-)gestaltet wird, mag der Boden für ein breiteres Verständnis früher Bildungsanregung und -förderung durch Familie und Institutionen besser bestellt sein.

Wenn also "vom Kind aus gedacht" wird und die von der JFMK geforderte "Debatte über Fragen der Generationengerechtigkeit" ein Committment über die föderalen Ebenen hinaus herbeiführt, können sich erfolgversprechende Perspektiven entwickeln. Man käme der dringend notwendigen chancengerechten Entwicklung aller Kinder im Sinne von Generationengerechtigkeit einen deutlichen Schritt näher.

Der neuen Arbeitsgemeinschaft gehören unter anderem Prof. Dr. Sabine Walper, Deutsches Jugendinstitut München, Dr. Wolfram Hartmann, ehemaliger Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt*innen, Dr. Maria del Pilar Andrino Garcia, Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) e. V. sowie Dr. Ulrike Horacek und Dr. Andreas Oberle, Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, an. Als fachliche Beraterinnen fungieren zusätzlich Prof. Dr. C. Katharina Spieß, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) in Wiesbaden, und Dipl. Päd. Mechthild Paul, Nationales Zentrum Frühe Hilfen in Köln.


Korrespondenzadresse
Dr. Ulrike Horacek
DGSPJ-Vorstandsmitglied
Geschäftsstelle der DGSPJ
Chausseestraße 128/129
10115 Berlin
E-Mail: geschaeftsstelle@dgspj.de

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (5) Seite 376-380