Ängste, Zwänge, Depressionen etc.: Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung haben ein signifikant höheres Risiko, psychische Störungen zu entwickeln. Eine Übersicht über die diagnostischen Herausforderungen, Prävention sowie Interventionen und Behandlungsoptionen gibt der folgende Beitrag – mit vielen Fallbeispielen.
Die Diagnostik von psychischen Störungen bei Patientinnen und Patienten mit Intelligenzminderung stellt Fachleute vor mehrere Herausforderungen. Handelt es sich bei den Symptomen, die wir sehen, um Verhaltensauffälligkeiten, die aus der Intelligenzminderung resultieren oder um solche, die auf eine psychische Störung hinweisen? Oftmals sind die Symptome nicht leicht zu verstehen, sie werden unter Umständen falsch interpretiert. Da die Patientinnen und Patienten oft weniger gut oder gar keine Auskunft geben können, sind sowohl der diagnostische Prozess als auch die Behandlung deutlich erschwert.
Die Einbeziehung von Eltern und Bezugspersonen ist der entscheidende Faktor in der Diagnostik und Therapie von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung und psychischen Störungen. Eltern können wertvolle Informationen über die Entwicklung und das Verhalten des Kindes liefern, die für eine präzise Diagnosestellung unerlässlich sind. Zudem ist ihre aktive Teilnahme an der Therapie von großer Bedeutung, da sie die Umsetzung von Therapieansätzen im Alltag unterstützen können. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Fachleuten und Familienangehörigen fördert nicht nur das Verständnis für die Erkrankung, sondern stärkt auch die Ressourcen der Familie, was letztlich zu besseren Behandlungsergebnissen führt.
Häufigkeit und Arten von psychischen Störungen
Erhöhte Prävalenz: Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung haben ein signifikant höheres Risiko, psychische Störungen zu entwickeln. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 40 – 50 % dieser Gruppe betroffen sind, verglichen mit etwa 10 – 20 % in der Allgemeinbevölkerung (Leitlinie Intelligenzminderung, AWMF).
Häufige Störungen: Insbesondere bei Patientinnen und Patienten mit leichter Intelligenzminderung treten Angststörungen und Depressionen häufig auf. Die Betroffenen entwickeln oft ein Bewusstsein für ihre Einschränkungen, sie leiden darunter, erleben sich als weniger leistungsfähig und werden oft sozial ausgegrenzt. Da diese internalisierenden Störungen meist nicht mit stark herausfordernden Verhaltensweisen einhergehen, werden sie leider immer wieder übersehen.
Eine der häufigsten komorbiden Diagnosen ist eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Patientinnen und Patienten sind motorisch unruhig, haben einen hohen Bewegungsdrang und zeigen impulsives Verhalten. Ihre Konzentrationsspanne ist verkürzt.
Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen mit schwerer Intelligenzminderungen bestehen zusätzlich Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Sie kommunizieren kaum oder gar nicht sprachlich, nehmen wenig Kontakt zu anderen Menschen auf und zeigen stereotype Verhaltensweisen. Die häufigsten Vorstellungsgründe sind sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen. Dazu zählen Aggressionen, Selbstverletzungen und oppositionelles Verhalten, oft verstärkt durch Kommunikationsschwierigkeiten.
Ätiologie
Biologische Faktoren: Genetische Syndrome können das Risiko für bestimmte psychische Störungen erhöhen. So ist zum Beispiel das Fragile-X-Syndrom häufig mit Hyperaktivität und Autismus-Spektrum-Störung assoziiert [1]. Patienten mit Lesh-Nyhan-Syndrom verletzen sich oft selbst [2]. Schädigungen des zentralen Nervensystems, wie z. B. eine Zerebralparese, beeinflussen sowohl die kognitive als auch die emotionale Entwicklung.
Psychosoziale Faktoren: Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung sind vielfachen Belastungen im sozialen Bereich ausgesetzt. Sie entwickeln ein Bewusstsein dafür, "anders" zu sein, eine Förderschule zu besuchen und von jüngeren Geschwistern in der Entwicklung überholt zu werden. Sie erleben, dass sie auf Hilfe angewiesen sind, dass sie Dinge oft nicht (beim ersten Mal) verstehen, sie werden von Altersgleichen sozial ausgegrenzt und haben möglichweise kaum Freunde. Diese Erfahrungen wirken sich negativ auf das Selbstbild und die Selbstwirksamkeitserwartung aus und begünstigen so die Entstehung psychischer Störungen.
Auch die kognitiven Einschränkungen selbst sind ein Risikofaktor. Menschen mit Intelligenzminderung haben Schwierigkeiten, Probleme eigenständig zu lösen, ihre Gefühle auszudrücken oder Wünsche angemessen zu formulieren. Das führt zu Missverständnissen und Frustrationserleben.
Diagnostische Herausforderungen
Somatisch: Menschen mit Intelligenzminderungen haben oft eine veränderte Schmerzwahrnehmung. Das erleben wir z. B. bei medizinischen Eingriffen wie Blutentnahmen, aber auch bei Verletzungen und/oder Selbstverletzungen. Dennoch können nicht erkannte Schmerzen eine Ursache für Änderungen im Verhalten und der Stimmung sein. Die Patientinnen und Patienten berichten Schmerzen selten spontan, oft auch nicht auf Nachfrage. Es ist deshalb wichtig, die Bezugspersonen genau zu befragen. Denken Sie in der Diagnostik unbedingt an Kopf- und Bauchschmerzen, Menstruationsbeschwerden, Zahnschmerzen und nicht erkannte Verletzungen. Genaue Beobachtungsprotokolle können hilfreich sein. Manchmal gibt die probatorische Gabe eines Schmerzmittels den entscheidenden Hinweis darauf, dass es notwendig ist, sich auf die Suche nach einem Schmerzfokus zu begeben. Siehe auch Fallbeispiel 1.
Diagnostik mit den Kindern und Jugendlichen selbst: Wir neigen dazu, mehr mit den Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen zu sprechen als mit ihnen selbst. Beim Vorliegen einer Intelligenzminderung verstärkt sich diese Tendenz, auch dann, wenn unsere Patientinnen und Patienten durchaus in der Lage sind zu kommunizieren. Damit verschenken wir wichtige diagnostische Möglichkeiten. Sprechen Sie mit Kindern und Jugendlichen selbst, fragen Sie in einfacher Sprache, wie es ihnen in bestimmten Situationen geht, was sie mögen, was sie nicht mögen, wovor sie Angst haben und was sie belastet. Räumen Sie ihnen für die Antworten ausreichend Zeit ein und sorgen Sie dafür, dass die Eltern nicht automatisch das Gespräch übernehmen. Nutzen Sie kommunikative Hilfsmittel, die die Patientinnen und Patienten im Alltag benutzen (Bildkarten, UK-Gesten, Talker). Siehe auch Fallbeispiel 2.
Exploration der Bezugspersonen: Eltern kennen ihre Kinder in der Regel am allerbesten. Nutzen Sie die Eltern als Ressource. Lassen Sie sich so genau wie möglich erklären, was schwierig ist, Sorgen bereitet oder anders ist als sonst. Fragen Sie auch, wie die Eltern selbst auf bestimmte Symptome reagieren. Verschaffen Sie sich einen Überblick über das Ausmaß der Teilhabe, der Kommunikation und der Selbstständigkeit im Alltag. Wenn sich im ersten Gespräch keine Hypothese ableiten lässt, bitten Sie die Eltern um Alltagsprotokolle mit konkreten Fragen zur Situation, dem Verhalten und den Reaktionen der Umwelt. Siehe auch Fallbeispiel 3.

Die Eltern-Kind-Beziehung: Eltern sind oft unsicher, was ihr Kind mit Intelligenzminderung leisten kann und welche Anforderungen angemessen sind. Kinder und Jugendliche werden daher manchmal überfordert, manchmal unterfordert und manchmal wechseln sich Unter- und Überforderung ab. Beobachten Sie die Interaktion der Eltern mit ihren Kindern genau: Beantworten die Eltern Fragen für Ihre Kinder? Helfen sie unnötig viel beim An- und Ausziehen? Wie reagieren sie, wenn ihr Kind sich äußert? Fragen Sie auch nach dem Wochenplan des Kindes. Manche Patientinnen und Patienten und werden nach Kindergarten oder Schule an jedem Wochentag zu Therapien gebracht. Sie haben keine Zeit zu lernen, sich allein zu beschäftigen, zu entdecken, was sie gern mögen und was ihnen Spaß macht. Manchmal führt auch die Reaktion der Bezugspersonen zu einer ungewollten Belohnung eines schwierigen Verhaltes. Es kann dann passieren, dass Eltern oder Betreuerinnen/Betreuer versehentlich ein Verhalten "belohnen", weil sie eine andere Bewertung ihrer Konsequenzen vornehmen als ihr Kind. Wenn ein Kind z. B. immer dann, wenn es laut schreit, durch Zurechtweisungen dennoch Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommt, die wieder nachlassen, wenn es leise ist, kann sich das Schreien dadurch verstärken. Siehe auch Fallbeispiel 4.

Beobachtungsbögen: Diese sollten einfach und praktikabel sein. Wichtig ist, dass sie auslösende Bedingungen und ungewollte Verstärkung eines Verhaltens miterfassen. Manchmal stellt sich durch eine genaue Beobachtung heraus, dass ein störendes Verhalten aus der Sicht des Kindes oder Jugendlichen u. U. zweckmäßig und sinnvoll ist und eben keine "voraussetzungslose" Verhaltensstörung darstellt. Siehe auch Fallbeispiel 5.

Prävention psychischer Störungen
Tagesstruktur: Der Tagesablauf eines Menschen mit Intelligenzminderung sollte für diesen vorhersehbar sein. Gerade wenn er wenig sprechen und verstehen kann, benötigt er Ankündigungen für das, was kommt, und Zeit, sich auf Veränderungen und Abweichungen einzustellen. Visualisierte Tagespläne helfen, die Übersicht zu behalten und Übergänge zu gestalten. Die Tagesplanung sollte eine Mischung aus Anforderungen, Lernen, Fördereinheiten und Zeiten für selbstbestimmte Beschäftigung vorsehen.
Oft werden Kinder- und Jugendliche mit Intelligenzminderung in die Schule und nach Hause gefahren. Grund dafür ist oft keine Körperbehinderung, sondern die Tatsache, dass sie Wege (noch) nicht allein bewältigen. Sie bewegen sich dadurch oft sehr wenig. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche sich möglichst jeden Tag an der frischen Luft bewegen und sie die Chance haben, sich körperlich zu verausgaben und müde zu werden. Auch bei einer zusätzlichen Köperbehinderung sollte auf Bewegung geachtet werden. Möglichkeiten dazu sind z. B. Fahren mit einem Therapierad oder Tandem, Laufen mit Gehhilfen, den Aktiv-Rollstuhl wirklich selbst zu bewegen, Schwimmen, Reiten, aber auch "Toben" und "Raufen".
Selbstwirksamkeit: Fragen Sie die Familien, die ihre Kinder bei Ihnen vorstellen, nach dem Ausmaß der Selbstbestimmung im Alltag. Wo im Tagesablauf dürfen Kinder und Jugendliche selbst entscheiden, was sie tun wollen? Gibt es dafür ausreichend Anregung?
Alle Menschen wollen sich gern als nützlich und hilfreich für andere erleben. Auch Menschen mit Intelligenzminderung brauchen Gelegenheiten, sich nützlich zu fühlen, zu helfen, etwas beizutragen, etwas für andere zu tun.
Kinder und Jugendliche müssen lernen, mit Ärger angemessen umzugehen. Ärger darf sein und muss ausgedrückt werden. Je größer das Ausmaß der kommunikativen Einschränkungen ist, desto mehr brauchen Kinder und Jugendliche Hilfe von Bezugspersonen, die den Ärger wahrnehmen, ihn stellvertretend benennen und Möglichkeiten für einen angemessenen Ausdruck des Ärgers mit ihnen erarbeiten.
Interventionen und Behandlung
Wirksame Anreize für Verhaltensänderung schaffen
Menschen verändern ihr Verhalten eher, wenn sie sich auf ein Ziel hinbewegen. Ziele sollten deshalb Annäherungsziele, keine Vermeidungsziele sein. Es geht also nicht darum, "keine Angst mehr zu haben", sondern "mutiger zu werden"; statt "nicht dazwischen zu reden" "zuzuhören, was die anderen erzählen" und statt "nicht zu hauen" "Stopp zu sagen, wenn ich etwas nicht möchte".
Aus Annäherungszielen erwächst auch leichter eine eigene Motivation. Kinder und Jugendliche tun dann etwas, weil sie es wollen und nicht, weil jemand anderes das möchte oder sie etwas dafür bekommen.
Bei sogenannten herausfordernden Verhaltensweisen ist es wichtig, ein Verhalten nicht nur zu verbieten, sondern gleichzeitig eine Verhaltensalternative anzubieten und zu fördern.
Ziele sollten so s.m.a.r.t. wie möglich sein, d. h., spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert. Siehe auch Fallbeispiel 6.

Vermeidung von Anforderungen
Viele Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderung zeigen ein vermeidendes Verhalten in Anforderungssituationen. Zum Teil resultiert dieses Verhalten aus Überforderungssituationen mit Misserfolgen. Anstrengung hatte sich in der Vergangenheit nicht gelohnt und nicht zum Erfolg geführt.
Hier ist es wichtig, mit den Kindern und Jugendlichen auf den Prozess der Anstrengung zu schauen (gibt er oder sie sich wirklich Mühe?) und nicht oder weniger auf das Ergebnis (also ob etwas am Ende richtig oder falsch ist). Günstig dabei ist es, an der Null-Fehler-Grenze zu arbeiten – dem Kind also Aufgaben zu geben, bei denen man sicher ist, dass es sie bewältigen kann. Viele Kinder mit Intelligenzminderung lernen nämlich leider systematisch, dass sie erst dann leichtere Aufgaben bekommen, wenn sie an anderen gescheitert sind. Siehe auch Fallbeispiel 7.

Bedürfnisaufschub trainieren
Viele Kinder und Jugendliche mit Intelligenzminderungen haben eine geringe Fähigkeit, eigene Bedürfnisse aufzuschieben und auszuhalten, auf etwas warten zu müssen. Statt zu sagen "jetzt noch nicht" kann das Ziel formuliert werden "warten" zu lernen. Begonnen wird mit einer sehr kurzen Zeit. Um diese zu visualisieren, eignen sich Timer oder Sets mit Sanduhren mit unterschiedlichen Lauflängen.
Begonnen wird mit einer ganz kurzen Zeit, die möglichst noch unter der Zeitspanne liegt, die das Kind bereits schafft. Das Warten wird intensiv gelobt und ganz langsam gesteigert.
Ängste
Ängste müssen vor allem als solche erkannt werden. Manchmal verstecken sie sich hinter Verweigerung, Vermeidung und oppositionellen Verhaltensweisen. So kann es ein Ausdruck von Trennungsangst sein, wenn ein Kind sich morgens weigert aufzustehen, sich anzuziehen und zu frühstücken.
Soziale Ängste können dazu führen, dass Jugendliche nicht sprechen und Widerstände entwickeln, bestimmte Selbstständigkeitsschritte zu erlernen (z. B. allein einkaufen zu gehen).
Ängste können verhaltenstherapeutisch behandelt werden. Wichtig ist ein kleinschrittigeres Vorgehen mit vielen Wiederholungen und Visualisierungen. Ein enger Einbezug der Familie und der Betreuungspersonen in Kindergarten und Schule ist notwendig, um den Transfer von Erlerntem in den Alltag zu sichern und neue Fähigkeiten zu festigen. Siehe auch Fallbeispiel 8.

Zwänge
Der Übergang von ritualisiertem Verhalten zu Zwangshandlungen ist manchmal schwierig abzugrenzen. Die Entwicklung von Zwängen kann sich also sehr schleichend vollziehen. Zwänge beeinträchtigen oft die ganze Familie, meist sind Eltern intensiv in Zwangsrituale eingebunden. Kinder und Jugendliche bestehen auf ganz bestimmten Abläufen, bestimmten Utensilien oder Settings. Wenn ihren Vorstellungen nicht entsprochen wird, reagieren sie verzweifelt oder wütend. Eltern geben häufig nach, um Alltagsabläufe überhaupt noch zu bewältigen.
Auch hier muss ein psychotherapeutisches Vorgehen an die kognitive Entwicklung des Kindes angepasst werden. Expositionsübungen müssen häufiger wiederholt und in den Situationen selbst intensiv trainiert werden.
Für sprechende Kinder eigenen sich Externalisierungstechniken. "Herr Zwang ist bei dir eingezogen und erzählt jetzt lauter Unsinn. Du kannst nicht mehr bestimmen, sondern machst nur noch, was er dir sagt. Wir werden jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass der sich nicht so aufspielt und wir wieder bestimmen können, was wir tun." Auf diese Weise verbünden sich Eltern mit ihrem Kind gegen das Symptom und der Kampf der Eltern gegen das Kind lässt nach. Siehe auch Fallbeispiel 9.

Depressionen
Depressionen treten häufig im Rahmen von Anpassungsstörungen auf, beispielsweise bei Verlust von Bezugspersonen, bei Überforderung oder Ausgrenzung oder als Folge sozialer Isolation. Häufig werden sie zunächst nicht bemerkt, weil Kinder und Jugendliche sich zurückziehen und nicht mit expansivem Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Selbst wenn intelligenzgeminderte Patientinnen und Patienten sprechen können, sind sie häufig nicht in der Lage, ihre (traurigen) Gefühle adäquat zu benennen. Hilfreich ist es hier, zunächst verschiedene Gefühlszustände zu differenzieren, zu bebildern und schließlich zu benennen. Kinder und Jugendliche lernen dann im nächsten Schritt, auf Fragen ihrer Bezugspersonen zu antworten und zu sagen, wie es ihnen geht. Gemeinsam kann dann geschaut werden, wo die Ursachen für (benannte) Traurigkeit und Rückzug liegen und was an den Umgebungsbedingungen geändert werden kann.
Ein wichtiger Baustein in der Therapie kann die Suche nach freudvoller (Selbst-) Beschäftigung sein. Je nach Ausmaß der kognitiven Einschränkung erfordert das viel Kreativität und ebenfalls den Einbezug möglichst vieler Bezugspersonen. Freude kann auch entstehen, wenn sich die Kinder und Jugendliche als nützlich für die Gemeinschaft erleben, wenn sie helfen können und dürfen. Siehe auch Fallbeispiel 10.

(Auto-)aggressives Verhalten
Aggressive und selbstverletzende Verhaltensweisen sind vermutlich die häufigsten Vorstellungsgründe von Patientinnen und Patienten mit Intelligenzminderung. Oft stellt sich hier (zu schnell) die Frage nach Medikation. Unterschieden werden muss bei diesen Symptomen zwischen einem gezielten, z. B. provokativem Verhalten und impulsiven Aggressionen. Nur letztere sind einer Medikation (z. B. mit Antipsychotika) zugänglich.
Nötig ist es, diese Verhaltensweisen zu verstehen und einzuordnen, um sie zu verändern. Situationsanalysen, Beobachtungsprotokolle und Verhaltensanalysen anhand von Videoaufnahmen oder Vor-Ort-Terminen können dabei hilfreich sein.
Bezugspersonen müssen lernen, klar und eindeutig zu kommunizieren und zu begrenzen. Sie sollten gleichzeitig zum Abbau aggressiven Verhaltens immer auch am Aufbau alternativer, sozial kompetenter Verhaltensweisen mitwirken. Siehe auch Fallbeispiel 11.

(Teil-)stationäre Behandlung/Home-Treatment
Gerade bei herausforderndem und aggressivem Verhalten wird schnell nach einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnostik und Behandlung gefragt. Es gibt leider zu wenige Kliniken, die ein geeignetes Setting für Kinder- und Jugendliche mit Intelligenzminderung anbieten können.
Eine (teil-)stationäre Aufnahme sollte bei dieser Klientel so selten wir möglich stattfinden. Die veränderten Umgebungsbedingungen (fremde Räume, fremde Menschen) erschweren die Diagnostik und Ursachenforschung, häufig verändern sie auch die Symptomatik. Insbesondere für Patientinnen und Patienten mit mittelgradiger oder schwerer Intelligenzminderung und ohne Sprachmöglichkeiten sind stationäre Aufnahmen ein erheblicher Stress.
Schwierig ist auch der Transfer von Gelerntem in den Alltag, der von den Patientinnen und Patienten keinesfalls allein geleistet werden kann.
Indikationen für (teil-)stationäre Behandlungen können sein:
- der Behandlungsbedarf kann ambulant nicht festgelegt werden, weil diagnostische und/oder ätiologische Einordnung nicht gelingen
- eine ambulante Behandlung unter Einbezug des Umfelds war nicht erfolgreich
- Krisenintervention bei Dekompensation der psychosozialen Situation.
Günstig ist eine Mitaufnahme der Eltern. Diese stellen einerseits eine vertraute Beziehung für die Patientinnen und Patienten sicher, geben aber auch wichtige diagnostische Informationen zu (verändertem) Verhalten und zu möglichen Ursachen. Gleichzeitig sind sie in der Lage, den Alltagstransfer nach der Entlassung sicherzustellen. Sie können in den Behandlungsprozess intensiv einbezogen werden und selbst ihr Verhalten in Bezug auf ihr Kind reflektieren und verändern.
Patientinnen und Patienten mit Intelligenzminderung profitieren von kleinen Gruppen, überschaubaren und nachvollziehbaren Abläufen und einer Kontinuität der betreuenden Fachpersonen.
Falls sich an eine vollstationäre eine tagesklinische Behandlung anschließt, sollte kein Gruppenwechsel erfolgen. Patientinnen und Patienten sollten entweder tagesklinisch in der vollstationären Gruppe weiterbetreut werden oder primär in der tagesklinischen Gruppe aufgenommen und nur für die Nacht auf eine Station wechseln.
Bereits während der Behandlung muss eine intensive Zusammenarbeit mit dem sozialen Netz außerhalb der Klinik erfolgen, stationär und ambulant Behandelnde müssen vor, während und nach dem stationären Aufenthalt eng verzahnt zusammenarbeiten.
Eine noch viel zu selten für diese Klientel genutzte Behandlung ist das Home-Treatment. Es ist sehr gut geeignet, psychische Störungen direkt im Alltag zu verstehen und zu therapieren. Der Transfer in alle Lebensbereiche gelingt viel zuverlässiger als bei (teil-)stationären Behandlungen. Home-Treatment kann als Intensivierung der ambulanten Therapie von denselben Fachpersonen übernommen werden, die davor und danach behandeln, die Patientinnen, Patienten und ihre Familien bereits kennen und im Anschluss an die intensive Therapiephase aufbauen können. Studien zeigen bessere und nachhaltigere Ergebnisse als bei stationären Aufenthalten [3, 4, 5]. Nicht zuletzt ist diese Behandlungsform neben ihrer hohen Effektivität deutlich ökonomischer als eine stationäre Behandlung. Hier sind dringend weitere Modellversuche und eine rasche Überführung in die Regelversorgung geboten.
- Arbeiten Sie immer vernetzt mit allen Bezugspersonen.
- Achten Sie auf internalisierende Störungen. Sie werden häufig übersehen.
- Suchen Sie nach den Auslösern und dem "Sinn" schwieriger Verhaltensweisen aus Sicht des Kindes oder Jugendlichen.
- Schaffen Sie wirksame Anreize für Verhaltensänderungen.
- Weisen Sie möglichst selten zur vollstationären Behandlung ein.
- Setzen Sie sich (auch politisch) für Home-Treatment in der Sozialpädiatrie ein.
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (4) Seite 256-263