Aus Anlass der bevorstehenden Bundestagswahl warnt der renommierte Mikrosoziologe Professor Hans Bertram davor, dass ein signifikanter Teil von Kindern dauerhaft abgehängt wird.

Zwar weist Bertram auch darauf hin, dass die meisten Mädchen und Jungen in Deutschland – im internationalen Vergleich – in begünstigten materiellen und sozialen Verhältnissen aufwachsen. Aus einer Analyse für das deutsche Komitee für UNICEF habe sich aber auch ergeben, dass in manchen Städten im Ruhrgebiet oder in Berlin zwischen 30 und 35 Prozent der Kinder unter drei Jahren in Haushalten auf, die von Hartz IV leben. Kinder von Alleinerziehenden tragen ein doppelt so hohes Risiko in relativer Armut aufzuwachsen, wie ihre Altersgenossen in Familien mit beiden Elternteilen – selbst dann, wenn ihre Mütter oder Väter einen Arbeitsplatz haben.

Armutsquote vor allem bei Alleinerziehenden trotz Unterstützung sehr hoch

„Trotz vieler Investitionen und einer vergleichsweisen guten Wirtschaftslage ist es in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht gelungen, die Chancen für benachteiligte Kinder deutlich zu verbessern“, sagte Dr. Jürgen Heraeus, Vorsitzender von UNICEF Deutschland. „Wir brauchen eine politische Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden, um die Teilhabe benachteiligter Kinder zu stärken. Jedes Kind braucht faire Chancen, ganz gleich in welcher Form von Familie oder an welchem Ort es aufwächst.“

Ohne staatliche Hilfe liegt laut Bertram die relative Kinderarmut in Deutschland auf der Basis von 50 Prozent des Medianeinkommens bei 24 Prozent. Durch staatliche Transferleistungen sinkt diese Quote auf sieben Prozent.

Allerdings erreicht diese Unterstützung Kinder sehr unterschiedlich: Während die Armutsquoten bei Kindern mit beiden Elternteilen auf etwa vier Prozent sinken, bleiben sie bei Alleinerziehenden mit 16 Prozent sehr hoch. Würden zum Beispiel bei berufstätigen Alleinerziehenden die Beiträge für Krankenkasse und Rente wegfallen, würde das relative Armutsrisiko dieser Gruppe um rund sechs Prozent deutlich gesenkt.

Verbesserungen in den neuen Bundesländern, Handlungsbedarf bei Migranten

Relative Kinderarmut ist in Deutschland sehr unterschiedlich verteilt. So hat sich etwa die Lage in den neuen Bundesländern in den vergangenen zehn Jahren verbessert. In Dresden leben noch 15 Prozent der Kinder in solchen Haushalten – gegenüber 30 Prozent in Berlin. Auch Leipzig hat sich von 40 auf 25 Prozent erkennbar verbessert.

Besondere Kraftanstrengungen sind aus der Sicht von UNICEF für Kinder und Frauen aus zugewanderten Familien notwendig, damit diese ihre Kinder besser unterstützen können. So waren 2011 – bereits vor dem aktuellen Zustrom von Flüchtlingen – zum Beispiel in Essen 35 Prozent aller Kinder, deren Mütter einen Migrationshintergrund haben, von relativer Armut bedroht. In Hamburg waren es 20 und in München zehn Prozent.

Entgegen häufiger Vorurteile: die meisten Eltern opfern viel für ihre Kinder

Die meisten Eltern – so die Analyse im Auftrag von UNICEF – neigen entgegen häufig geäußerter Vorurteile dazu, ihre Zeit und finanziellen Ressourcen als erstes in ihre Kinder zu investieren. Sie verzichten lieber auf eigene freie Zeit oder Ausstattung mit materiellen Gütern. Hierdurch versuchen Eltern – vielfach erfolgreich – Nachteile für ihre Töchter und Söhne aufgrund materieller und sozialer Belastungen auszugleichen.

Aus der Perspektive der Kinderrechte stellt sich die Frage: „Dürfen die Chancen eines Kindes, das in einer ökonomisch schwierigen Lebenslage aufwächst, allein von der Opferbereitschaft seiner Eltern abhängen – oder muss der Staat nicht gerade diese Kinder besser unterstützen?“, fragt Bertram.

Die vollständige Analyse „Offene Gesellschaft, Teilhabe und die Zukunft für Kinder“ steht zum Download auf www.unicef.de/informieren/materialien


Quelle: Presseinformation der UNICEF-Pressestelle vom 22.6.2017