Kindliche Spiritualität ist mit Glück assoziiert. Und Meditation kann bei Kindern die seelische Gesundheit und ihr Entwicklungspotential verbessern. Michael Straßburg fasst Studienergebnisse und philosophische Ansätze zum Thema Kind und Glaube bzw. Spiritualität zusammen und zeigt praktische Konsequenzen auf.
Die heute in reichen Ländern selbstverständliche Erfüllung der Grundbedürfnisse für Kinder war in der bisherigen Menschheitsgeschichte fast nie gewährleistet, wie z. B. P. Ariès und L. deMause in ihren Beiträgen zur Geschichte der Kindheit eindrucksvoll belegt haben [1 – 3]. Kinder sind seit Menschengedenken mit den Glaubensinhalten der Erwachsenen aufgewachsen. Sie haben immer wieder Geschichten erzählt bekommen, die den Erwachsenen als Erklärung für alles, was sie selbst nicht wissen konnten, dienten. Diese Überlieferungen wurden ein wesentlicher Teil der kulturellen und zivilisatorischen Identität der Gesellschaften. Seit es historische Dokumentationen über den Umgang mit Kindern gibt, wurden diese ab dem Säuglingsalter durch unterschiedliche Erziehungsmaßnahmen – wozu neben emotionaler Zuwendung auch Repressionen und körperliche Züchtigungen zählen – in ihrem Verhalten geformt. Zweifel der Kinder an der Richtigkeit der Aussagen der Erwachsenen wurden in der Regel nicht erlaubt und konsequent bestraft [2, 4, 5].
Der amerikanische Entwicklungspsychologe Arnold Gesell (1880 – 1961) hat in vielen Interviews mit Kindern zwischen 5 und 10 Jahren eine Reihe von immer wiederkehrenden "prä-religiösen" Themen beschrieben [6]:
- die Erkennung von Zeit und Raum
- die Ablösung von der Familie
- die Entdeckung des Universums
- Gedanken über den Ursprung und das Ende des Lebens
- das zunehmende Interesse an ursächlichen Zusammenhängen
- zunehmende Zweifel an der Richtigkeit von Märchen und Mythen.
Symbole spielen bei Glaubensfragen eine wesentliche Rolle. Der schweizerische Kinderarzt und langjährige verantwortliche Betreuer der Zürcher Längsschnittstudie zur Entwicklung von Kindern, Remo Largo (1943 – 2020), hat die Zunahme von Symbolhandlungen in den ersten Lebensjahren wie folgt beschrieben [7]:
- 24 Monate: Holt nach verbaler Aufforderung einen Gegenstand aus einem anderen Zimmer, füttert eine Puppe, freut sich an gemeinschaftlichen Aktivitäten (z. B. Fingerspiele, Tischsitten usw.)
- 3 ½ Jahre: kann sich in die Gefühle anderer versetzen ("Theory of mind")
- 4 Jahre: Erkennt Regeln im Spiel an
- Ab 5. Lebensjahr: Stellt eigene Erfahrungen bildlich dar
- Ab 6. Lebensjahr: Kann zunehmend besser nicht erklärbare Phänomene differenzieren, z. B. ob es Menschen gibt, deren Handeln wir nicht erklären können, die z. B. zaubern können?
6- bis 8-jährige Kinder können davon überzeugt werden, dass nicht sichtbare Autoritäten ihr Tun überprüfen. So machen sie deutlich weniger Fehler beim Ballspiel, wenn in dem Raum ein leerer Stuhl steht, auf dem eine angebliche Prinzessin sitzt, die sie beobachtet [8].
Viele weitere Autoren haben sich mit der Entwicklung von Frömmigkeit, Spiritualität und moralischem Urteilen bei Kindern beschäftigt. Stark vereinfacht können folgende Stufen unterschieden werden [9 – 12]:
- In der Säuglings- und frühen Kleinkindzeit dominiert das Urvertrauen in seine Eltern, der "primal faith".
- Mit ca. 3 Jahren entsteht der intuitiv-protektive, magische Glaube der Mutter-Religion sowie die zunehmende Entdeckung des außerfamiliären Umfeldes.
- Ab dem Kindergartenalter spricht man von der autoritär-gesetzliche Form der Frömmigkeit, dem mystisch-wörtlichen Glauben.
- Diese Phase geht zunehmend in den persönlich reflektierten Glauben mit Symbolen und Ritualen über, es erfolgt eine Orientierung an den allgemein bestehenden Gesetzen und Ordnungen.
- In der Pubertät kommt es zur "Sturm- und Drangphase", zur Entdeckung von Idolen und zur Akzeptanz von Gegensätzen.
- In der postpubertären Zeit findet schließlich die Orientierung an universellen ethischen Prinzipien statt.
Konsequenzen für die Grundbedürfnisse von Kindern
Die einflussreichen amerikanischen Kinderärzte Berry Brazelton (1918 – 2018) und Stanley Greenspan (1941 – 2010) haben die 7 wichtigsten Bedürfnisse von Kindern definiert [13]:
- körperliche Unversehrtheit,
- liebevolle Beziehungen,
- individuelle Erfahrungen,
- entwicklungsgerechte Erfahrungen,
- Grenzen und Strukturen,
- eine stabile, unterstützende Gemeinschaft, und
- globales Verantwortungsbewusstsein.
Aber wie können diese Grundforderungen konkret verwirklicht werden? Schlagworte wie z. B. "ein Kind braucht Urvertrauen und eine feinfühlige Bindung" zur Förderung seiner Widerstandsfähigkeit gegenüber negativen Einflüssen (= Resilienz) müssen klarer definiert sein, um in der Praxis umgesetzt zu werden [14].
Auch heute akzeptieren die meisten Kinder bis zum Schulalter Geschichten von Märchenprinzen und -prinzessinnen, Königen und Königinnen, Feen, Zwergen und sprechenden Tieren aber auch von Räubern, Hexen und bösen Tieren, später dann von modernen Fantasy-Helden wie Barbie, Harry Potter oder den Akteuren im Herr der Ringe u. v. m. Kinder fühlen sich in ihrer Phantasie als Prinzessin, Clown, Pirat, Indianer oder Cowboy und wissen das von der Lebenswirklichkeit zu trennen. So können sie für sich Schönheit, Stärke, Fröhlichkeit, Abenteuer u. v. m. vorstellen und sich damit identifizieren [9, 10].
Spielen als "kreativer Dialog", die Entfaltung der eigenen Phantasie bei gleichzeitigem Einhalten von Regeln, alleine und in der Gemeinschaft mit anderen Kindern und Erwachsenen, ist von essentieller Bedeutung für die kindliche Entwicklung und "macht Kinder schlau", – das ist eine der wesentlichen (Wieder-)Erkenntnisse der modernen Entwicklungs- und Lernpsychologie [15].
Spiritualität und die Vermittlung religiöser Inhalte
Zunehmend wird die Bedeutung von Spiritualität auch und gerade für Kinder erkannt und weltweit in unterschiedlicher Form umgesetzt. Meditation, Beten und die Entwicklung eigener Vorstellungen zu den Mächten, die unser Leben gestalten, sind für jeden Menschen wichtig und können ihm in verschiedensten religiösen Konzepten vermittelt werden. "Religion" im übergeordneten Sinn kann hierfür ein Weg sein, aber sie sollte auch von kirchlichen Glaubensinhalten abgegrenzt und differenziert betrachtet werden. Haben Kinder also ein Recht auf Religion oder ist eine humane Ethik ausreichend? Bald ist in Deutschland der Anteil von nicht religiös gebundenen Menschen höher als der von allen Menschen mit einer Religionszugehörigkeit [16 – 18].
Mark D. Holder et al. sind in ihren sog. "Happiness studies" bei Kindern zu folgenden Ergebnissen gekommen [11]:
- Kindliche Spiritualität, nicht aber religiöse Praktiken, sind mit Glück assoziiert
- Die Wertschätzung des eigenen Lebens und der Beziehungen zu anderen Menschen sind mehr mit Glück verbunden als die Bewunderung der Natur und der Glaube an etwas Größeres
- Streitigkeiten zwischen den Eltern haben ebenso einen negativen Einfluss auf das psychische Wohlbefinden der Kinder wie die Praktizierung einer indoktrinierenden Religiosität
- Kinder können sehr wohl zwischen der Alltagsrealität und der Phantasie in Märchen, Sagen und Geschichten unterscheiden. Wenn die Erwachsenen mit Humor und Distanz vom Osterhasen, vom Weihnachtsmann, von Feen oder von Engeln erzählen, können Kinder damit gut umgehen. Dies gilt auch für chronisch kranke und behinderte Kinder, z. B. bei Märchenerzählungen, Zauberern und Clowns im Krankenhaus.
Seelische Gesundheit von Kindern
Seelische Gesundheit bei Kindern wirkt sich nicht nur positiv auf Emotionalität, Verhalten und soziale Anpassungsfähigkeit aus, sondern ebenso auf die bestmögliche Entfaltung seiner kognitiven, sprachlichen und motorischen Fähigkeiten. Kinder mit besonderen Bedürfnissen entwickeln sich emotional grundsätzlich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie Kinder eines Normalkollektivs und haben die gleichen entwicklungsspezifischen Bedürfnisse [19].
Der Philosoph Thomas Metzinger fordert in seinem Buch "Bewusstseinskultur" eine Vermittlung von neutralen Meditationstechniken, z. B. aus dem fernöstlichen Kulturkreis, für alle Kinder und Jugendlichen und postuliert eine enge Verbindung zwischen Spiritualität und rationaler moderner Wissenschaft. Ähnliche Vorschläge machen auch der Kinder- und Jugendpsychiater Alexander von Gontard und der Neuro- und Gesundheitswissenschaftler Tobias Esch [20 – 23].
Praktische Konsequenzen und Ausblick
Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Sie haben nicht nur einen Anspruch auf eine Ausbildung von Wissen und Können, sondern ihrer ganzen Persönlichkeit. Hierzu gehört vor allem die Entwicklung eines stabilen Selbstbewusstseins und einer sozialen Verantwortung [24]. Die in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland zunehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten und Verhaltensstörungen spricht dafür, dass dies sowohl bei den Heranwachsenden als auch bei deren Eltern oft fehlt. Dabei ist nicht einmal klar, ob schwere psychiatrische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wirklich häufiger geworden sind oder ob die Zunahme durch negative Umwelteinflüsse (Medienkonsum (!), mangelnde Bewegung, bessere Diagnostik, die Corona-Pandemie oder Unsicherheiten im Umgang untereinander zu erklären ist [7, 14].
Die wesentliche Voraussetzung für einen sicheren Umgang Erwachsener mit Kindern ist ein Vertrauen in dessen Fähigkeiten, Geduld und die Nutzung sensibler Momente für eine Besprechung von Problemen. Die plakative Forderung nach "mehr Disziplin" als Lösung für Verhaltensprobleme und Unsicherheiten ist ebenso wenig zielführend wie die Aussage: "Das verstehst Du noch nicht".
Kinder und Jugendliche brauchen in unserer von den Vorstellungen widerstreitender Erwachsenengruppen und den grenzenlosen sozialen Medien geprägten Welt einen größeren Stellenwert, sie sollten einerseits mit ihren eigenen Ansichten, Vorstellungen und Wünschen ernster genommen und andererseits vor diskriminierenden, aggressiven und destruktiven Äußerungen geschützt werden. Deshalb wird seit Jahren von verschiedenen Organisationen, u. a. auch der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) ein neues "Kinderbewusstsein" gefordert. Die konsequente Umsetzung hierfür ist eine Aufgabe aller sorgeberechtigen Eltern, der Kindertagesstätten, der Schulen – aber auch der Kinderärztinnen und Kinderärzte, der Kinderkrankenhäuser, der Kirchen, der Vereine, der Politik und letztlich der gesamten Gesellschaft [7, 19].
Weltweit sind die 1989 formulierten Grundrechte von Kindern in der UN-Kinderrechtskonvention definiert, die von Deutschland erst 2010 endgültig angenommen wurden. Einige der insgesamt 54 Artikel werden aus unterschiedlichen Gründen in vielen Ländern nur unzureichend beachtet. Das betrifft u. a. die Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen, die Gesundheitsversorgung, eine qualitative gute Schulbildung und den Schutz vor Kinderarbeit sowie das Recht, bei allen Fragen, die sie betreffen, mitzubestimmen und ihr Privatleben und ihre Würde zu achten. Emotionale Verführung von Kindern und Jugendlichen durch indoktrinierende Ideologien (Faschismus, Rassismus, fanatische Religionen) müssen eigentlich weltweit verboten sein und bereits im Ansatz unterbunden werden [25].
Es gibt viele praktische Bereiche, in denen die Rechte der Kinder auch in Deutschland ein höheres Gewicht haben sollten. Hierzu gehören z. B.
- der Anspruch jedes Kindes auf körperliche Unversehrtheit,
- der Anspruch jedes Kindes auf eine bestmögliche Gesundheitsversorgung – bisher wird von den gesetzlichen Krankenkassen nur eine "ausreichende und notwendige Behandlung" gewährleistet,
- die Berücksichtigung und fachgerechte Behandlung psychischer Erkrankungen bei der Versorgung von allen Kindern und Jugendlichen, auch den minderjährigen Flüchtlingen,
- ein Verfügungsrecht von Kindern und Jugendlichen ab 12 Jahren bei sie selbst betreffenden Entscheidungen zu medizinischen Behandlungsmaßnahmen,
- der Anspruch von Kindern und Jugendlichen mit ungesichertem Aufenthaltsrecht auf eine zeitnahe und adäquate Bildungsförderung,
- eine bestmögliche Berücksichtigung des Willens von Kindern und Jugendlichen bei gerichtlichen Sorgerechtsauseinandersetzungen,
- eine Neustrukturierung der vorschulischen und schulischen Ausbildung unter Berücksichtigung des gesetzlich verankerten Inklusionsanspruchs für alle Kinder.
Schlussendlich sollten die Kinderrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, am besten in Artikel 6, verankert werden. Dadurch würde sich die Situation von Kindern in politischen und juristischen Bereichen verbessern lassen und ihnen eher ermöglichen, sich zu selbstbewussten und sozialen Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft zu entwickeln. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich nicht nur die christlichen Kirchen, sondern alle Religionsgruppen offen dieser Forderung anschließen würden [25].
- Religiöse Glaubensinhalte sollten mit den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft in Einklang gebracht werden.
- Kindliche Spiritualität ist mit Glück assoziiert.
- Meditation kann bei Kindern die seelische Gesundheit und ihr Entwicklungspotential verbessern.
- Die Erfüllung der UN-Kinderrechte und die Aufnahme der Kinderrechte in das deutsche Grundgesetz können die Lebenssituation vieler Kinder verbessern
- Unsere Gesellschaft braucht ein stärkeres Kinderbewusstsein.
|
|
Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (4) Seite 278-281