Anamnese und klinischer Befund bei einem kleinen Jungen (1 Jahr und 10 Monate) liegen vor. Wie lautet Ihre Diagnose? Ein Fall aus der Rubrik "Der diagnostische Blick".

Anamnese und klinischer Befund

Eine Mutter stellt ihren 1 Jahr und 10 Monate alten Sohn J. A. beim Kinderarzt aufgrund eines Schulterhochstands links vor. Dieser bestehe seit einigen Monaten und habe nach und nach zugenommen. Initial sei dies nur der Mutter, nun aber auch ihrem Mann und der Großmutter des Jungen aufgefallen. Ansonsten sei der Junge nicht davon beeinträchtigt, er gebe keine Schmerzen an und bewege den linken Arm normal. Ein Trauma sei nicht erinnerlich. Er sei bisher normal entwickelt, eine Sonographie des Schädels und des Rückenmarks aufgrund eines sakralen Grübchens seien nach Geburt unauffällig gewesen.

In der klinischen Untersuchung findet sich ein deutlich sichtbarer Schulterhochstand links, bei unbeeinträchtigtem Bewegungsradius der Schulter. Rötung, Überwärmung, Schwellung, tastbare Auffälligkeiten oder Druckschmerz sind nicht festzustellen. Die Wirbelsäule scheint gerade, die Beckenkämme sind gleich hochstehend zu tasten.

1. An welche Ursache denken Sie?

a) Angewohnheit oder Eigenart des Kindes, die sich spontan wieder gibt
b) Muskulär bedingte Fehlhaltung, z. B. eine leichte Form des Torticollis
c) Zugrundeliegende knöcherne Auffälligkeiten, z. B. Skoliose
d) Sprengel-Deformität

2. Was tun?

a) Zunächst spontanen Verlauf abwarten mit nächster Kontrolle in 4 Wochen
b) Verordnung von Physiotherapie
c) Überweisung zum Röntgen in die Ambulanz der nahegelegenen Kinderklinik
d) Überweisung zum Orthopäden

Diagnostik

Der niedergelassene Kinderarzt entschloss sich, J. A. in der Ambulanz der örtlichen Kinderklink zum Röntgen vorzustellen.

Bei der klinischen Untersuchung ließ sich zusätzlich zu den oben genannten Befunden ein leichter thorakaler Rippenbuckel links beobachten.

In den angefertigten Röntgenaufnahmen Thorax p. a. und BWS a. p. zeigte sich folgender Befund (Abb. 1 und 2).

Wie lautet Ihre Diagnose?

Skoliose aufgrund von Wirbelkörperfehlbildungen. Auf den Röntgenbildern ist eine linkskonvexe Skoliose mit Cobb’schem Winkel von 36° bei Fehlbildung des 3. – 6. thorakalen Segments rechts mit dorsaler Fusion der Rippen 3 – 6 und Halbwirbelbildung bei BWK 4 mit teils kompletter, teils unvollständiger rechtslateraler Fusion im Bereich BWK 3 – 6 zu sehen.

Procedere

Nach ausführlicher Information der Eltern erfolgte die Empfehlung der Durchführung einer Sonographie der Nieren und des Abdomens sowie einer Echokardiographie zum Ausschluss assoziierter Fehlbildungen sowie die Überweisung an eine orthopädische Fachklinik zur Planung des weiteren Vorgehens.

Diskussion

Die embryologische Entwicklung der Wirbelsäule mit Bildung von Sklerotomen und Verschmelzung jeweils eines kaudalen und kranialen Sklerotomanteils ist ein komplizierter und daher störungsanfälliger Vorgang [4].

Wirbelkörperfehlbildungen kommen bei knapp 20 % aller Kinder vor, die meisten Fehlbildungen sind jedoch bedeutungslose Normvarianten, z. B. Lumbalisierung eines Sakralwirbels oder Sakralisierung eines Lumbalwirbels. Seltener kommt es zu Formationsstörungen, z. B. Keilwirbel, Halbwirbel und Schmetterlingswirbel oder Segmentationsstörungen, z. B. Blockwirbel und unilateraler Bar [1].

Kongenitale Skoliosen sind mit 3 – 6 % aller Skoliosen selten [5]. Es liegen in der Regel Wirbelkörpermissbildungen im Sinne von Formationsstörungen und Segmentationsstörungen vor. Bei kongenitalen Skoliosen fehlt initial die Rotation der Wirbelkörper zueinander, so dass zu diesem frühen Zeitpunkt oft weder Rippenbuckel noch Lendenwulst erkennbar sind [5].

Jedoch zeigen gerade einseitige oder ventrale Segmentationsstörungen mit Barbildung und dorsale Rippenfusionen ein erhebliches Progredienzrisiko von ca. 5° bis 10° pro Jahr aufgrund des asymmetrischen Wachstumspotentials [1]. Die Prognose ist abhängig von den Folgen der Wirbelkörperanomalien für die Thoraxentwicklung und assoziierten Fehlbildungen. Fehlbildungen, insbesondere der Nieren sowie der ableitenden Harnwege (20 %) [2], des Herzens (6 %) [7], des Gehirns sowie intraspinale Anomalien (6 %) [7] müssen ausgeschlossen werden. Bei ausgeprägter Skoliose kommt es in aller Regel zu einer unzureichenden Entwicklung des Thoraxvolumens mit kardiopulmonalen Funktionsstörungen [3] bis hin zum Cor pulmonale und zu neurologischen Störungen [1, 5]. Daher sind regelmäßige radiologische Kontrollen per Röntgen in halbjährlichen bis jährlichen Abständen indiziert, ggf. wird ein MRT notwendig.

Im Rahmen der Therapie spielen Physiotherapie und Korsettbehandlungen eine Rolle, diese haben jedoch keine Auswirkungen auf die primäre Deformität. Bei rascher Progredienz kann daher im Gegensatz zur idiopathischen Skoliose schon frühzeitig eine Operation notwendig werden, um eine weitere Progredienz und konselektive Spätfolgen zu vermeiden [1, 5, 7].

Es gibt unterschiedliche Operationsmöglichkeiten, z. B. durch verschiedene Arten der Spondylodesen, oft nach Destruktion der Wachstumsfuge auf der gesunden Seite der Wirbelkörper oder Halbwirbelresektionen [1, 5]. In den letzten Jahren sind teils expandierbare, mitwachsende Metallstäbe zunehmend Operationsmethode der Wahl. Eine Fusion der Wirbelkörper ist bei dieser Methode nicht notwendig und bietet den Vorteil, dass das spinale Wachstum unterstützt und die Lungenentwicklung verbessert werden [6].

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Bei Haltungsauffälligkeiten, insbesondere bei bereits längerer Anamnese, empfiehlt sich die Anfertigung eines Röntgenbildes zum Ausschluss skelettaler Ursachen, da diese in der Regel nicht durch alleinige Physiotherapie zu behandeln sind.
  • Eine Verzögerung der adäquaten Therapie einer angeborenen Skoliose kann zu langfristigen Funktionseinschränkungen des Bewegungsapparats und auch der Lunge sowie des Herzens führen.
  • Diese Kinder sollten daher umgehend einem auf dieses Krankheitsbild spezialisierten Orthopäden vorgestellt werden.

Literatur
1. Lindgren U, Svensson O (2001) Barn, Rygg, Missbildningar och Skolios. Ortopedi 354, 361 – 362
2. McEwen GD, Winter RB, Hardy JH (1972) Evolution of kidney anomalies in congenital scoliosis. J. Bone Jt Surg 54 (A): 1451 – 1354
3. Redding G, Song K, Inscore S, Effmann E, Campbell R (2008) Lung function asymmetri in children with congenital and infantile scoliosis. Spine J 8 (4): 639 – 644
4. Sadler TW, Langman J (1998) Spezielle Embryologie, Skelettsystem, Wirbelsäule. In: Medizinische Embryologie. Thieme, Stuttgart, 164 – 168
5. Stücker R (2003) Behandlungsmöglichkeiten der Skoliose. Monatsschr Kinderheilkd 151: 825 – 832
6. Thompson GH, Akbarnia BA, Campbell RM Jr. (2007) Growing rod techniques in early-onset scoliosis. J Pediatr Orthop 27 (3): 354 – 361
7. Winter RB, Moe JM, Eilers VE (1968) Congenital scoliosis, a study of 234 patients treated and untreated. J Bone Jt Surg 50 (A): 1 – 47


Autoren

Claudia Krummacher, Markus Knuf | Klinik für Kinder und Jugendliche, Dr. Horst Schmidt Klinik, Wiesbaden


Korrespondenzadresse
Claudia Krummacher
Kinderklinik der Dr. Horst Schmidt Klinik
Ludwig-Erhard-Str. 100
65199 Wiesbaden
Tel.: 06 11/43 25 55
Fax: 06 11/43 25 57
E-Mail: claudia.krummacher@hsk-wiesbaden.de

Prof. Dr. med. Markus Knuf
Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche
Kinderklinik der Dr. Horst Schmidt Klinik
Ludwig-Erhard-Str. 100
65199 Wiesbaden
Tel.: 06 11/43 25 55
Fax: 06 11/43 25 57

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2012; 83 (1) Seite 37-38