Auch 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs steht die Pädiatrie nicht nur vor medizinischen, sondern auch vor gesellschaftlichen Herausforderungen. Angesichts eines neuen Rechtsrucks wächst die Verantwortung aller in der Pädiatrie Beschäftigten, sich für eine offene, demokratische und inklusive Gesellschaft einzusetzen.

Kinderärztinnen und -ärzte betreuen die jüngsten und schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, deren Wohlergehen nicht nur von medizinischer Versorgung, sondern auch von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängt.

Die Geschichte der Pädiatrie in Deutschland ist eng mit den Verbrechen des Nationalsozialismus verknüpft. Während der NS-Zeit waren viele Kinderärztinnen und Kinderärzte direkt oder indirekt an eugenischen Programmen, Zwangssterilisationen und der systematischen Ermordung behinderter Kinder beteiligt. Kolleginnen und Kollegen wurden wegen ihres Glaubens, ihrer Neigungen oder ihrer Herkunft aus den medizinischen Gesellschaften verbannt, mit Berufsverbot belegt, verfolgt und getötet. Diese Verbrechen mahnen uns, dass Medizin nicht losgelöst von ethischen und politischen Fragen betrachtet werden kann. Die Lehre aus dieser Zeit muss sein: Medizin dient dem Schutz aller Menschen, unabhängig von Herkunft, Religion oder gesundheitlicher Verfassung.

Ein neuer Rechtsruck auch in unserem Land bedroht die zentralen Errungenschaften im Bereich der Kinderrechte. Nationalistische und diskriminierende Strömungen erschweren den Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung insbesondere für geflüchtete oder sozial benachteiligte Kinder. Es gibt bereits Bestrebungen, inklusive Bildung und Betreuung zu reduzieren, Sozialleistungen zu kürzen oder Migration als Bedrohung darzustellen. Auch die Niederlassung und Beschäftigung von Migrantinnen und Migranten scheint erneut gefährdet zu sein. Ich kenne den Fall einer Kollegin, die wegen massiver Bedrohung ihre Zulassung zurückgegeben hat, da sie aufgrund ihrer Herkunft schwer beleidigt und bedroht wurde.

»Wir in der Pädiatrie sollten für eine Medizin einstehen, die allen Kindern gleiche Chancen auf ein gesundes Leben ermöglicht.«

Die Pädiatrie kann nicht unpolitisch sein. Sie muss sich als Stimme für Vielfalt und Inklusion aktiv für eine Gesellschaft einsetzen, in der Diversität als Bereicherung gesehen wird. Das bedeutet:

Ärztinnen und Ärzte müssen sich öffentlich gegen Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Ausgrenzung positionieren. Besonders vulnerable Gruppen brauchen Unterstützung – auch in Gestalt politischer Fürsprache. Diskriminierungserfahrungen und Ausgrenzung haben massive Auswirkungen auf die psychische Entwicklung von Kindern. Die Pädiatrie muss sich für mehr psychologische Hilfsangebote einsetzen. Medizinische Fachkräfte müssen sich gegen Desinformation und wissenschaftsfeindliche Narrative stellen, die häufig mit extremen politischen Strömungen einhergehen.

Fazit

Die Geschichte lehrt uns, dass Medizin niemals neutral sein kann. 80 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft und angesichts eines neuen Rechtsrucks tragen wir in der Pädiatrie eine besondere Verantwortung, für eine Medizin einzustehen, die allen Kindern gleiche Chancen auf ein gesundes Leben ermöglicht. Auch müssen wir künftig den Kolleginnen und Kollegen stärker beistehen, die Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren.


Autor:
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Dr. med. Markus Landzettel
Dr. med. Markus Landzettel ist seit 1998 in einer pädiatrischen Gemeinschaftspraxis in Darmstadt niedergelassen, ist Obmann des kinder- und jugendärztlichen Notdienstes und hat einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Akademie in Darmstadt. Er hat 3 Kinder.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2025; 96 (3) Seite 156