Was resultiert aus einem paradoxerweise "positiv" genannten Befund? Es entsteht Handlungszwang. Wird nicht gehandelt, wird der Sinn der ganzen Pränataldiganostik ausgehebelt. Stefan Nolte über Sinn und Konsequenz der Pränataldiagnostik.

Vor vielen Jahren, 1991, hielt ich einen Vortrag über pränatale Nierenfunktionsdiagnostik auf einem internationalen Kongress ("the fetus as a patient") in Bonn. Am ersten Kongresstag versuchte eine Gruppe von Aktivisten mit Eierwürfen, Trommeln und Trillerpfeifen, die Kongressteilnehmer am Betreten der Beethovenhalle zu hindern.

Was wollen die eigentlich?, fragte ich mich. Ist es nicht etwa auch ein feministisches Anliegen, durch die Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik und Therapie Wünsche nach selbstbestimmter Reproduktion zu erfüllen? Wollen Frauen nicht Kontrolle über ihre Zukunft und Selbstverwirklichung bekommen? Erst zu dem Zeitpunkt habe ich begonnen, mich mehr mit dem Sinn und der Konsequenz einer Pränataldiagnostik (PND) zu beschäftigen.

Die PND folgt einer anderen Logik als Präventionsmaßnahmen, die wirklich Erkrankungen vorbeugen, wie etwa die Vitamin-D-Gabe bei Säuglingen zur Rachitisvorbeugung. Die PND ist eine Früherkennungsmaßnahme, eben keine Prävention.

Ebenso wie das Mammographie-Screening dem Brustkrebs nicht vorbeugt, sondern allenfalls hilft, ihn früher zu entdecken als etwa durch eine Tastuntersuchung (mit einem hohen Risiko falsch-positiver Befunde), kann eine Pränataldiagnostik nur bereits bestehende Abweichungen erheben, mit der fast einzigen Konsequenz einer Abtreibung. Somit wird die Geburt eines kranken oder behinderten Kindes verhindert. Es wird, um diesen Begriff aus dem Wörterbuch der Unmenschlichkeit zu benutzen, "selektioniert".

Was resultiert aber aus einem paradoxerweise "positiv" genannten Befund? Es entsteht Handlungszwang. Denn wird trotz einer gewonnenen Erkenntnis nicht gehandelt, wird die Sinnhaftigkeit der ganzen Pränataldiagnostik ausgehebelt. Und "gegen alle Vernunft" zu handeln, etwa eine Schwangerschaft bei einer bekannten Trisomie auszutragen, bedarf schon eines besonderen Stehvermögens.

Damit hebelt die Zwangsläufigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs – beim Wissen um eine signifikante chromosomale Störung – jedoch ein jedes Existenzrecht eines trotz aller Pränataldiagnostik geborenen Menschen mit einer solchen unerkannten oder unerkennbaren Störung aus.

"Hätte Maria abgetrieben, wäre uns das erspart geblieben" war einst ein provokanter Spruch aus der Anti-§ 218-Diskussion, der sich nahtlos aus der linken feministischen Ecke in die konservativ-paternalistische Denke der fortschrittsgläubigen "Alles-wissen-Woller" ummünzen lässt.

Von der Sozialwissenschaftlerin Kirsten Achtelik ist unter dem Titel "Selbstbestimmte Norm" [1] ein aufreizendes Buch zu der Thematik erschienen, welches die diametralen Aspekte der Pränataldiagnostik aus sozialkritischer, feministischer und behindertenpolitischer Sicht in ihren Widersprüchlichkeiten deutet.

Es ist diesem Thema mehr mediale Aufmerksamkeit zu wünschen, und eine Positionierung der Fachgesellschaften, die die lukrative ausufernde Vereinnahmung der Schwangerschaft auch unter dem Aspekt des Nicht-Schaden-Gebotes stärker betrachten sollten.


Literatur
1. Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm: Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag Berlin, 224 Seiten, 18,00 Euro, ISBN: 9783957321206


Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (3) Seite 148