Psychische Störungen sind bei jungen Kindern häufig und vielgestaltig. Welche Zeichen und Symptome sind zu beachten? Und wie können solche Störungen diagnostiziert werden?

Hintergrund

Viele psychische Störungen beginnen nicht plötzlich im Schulkind- und Jugendalter, sondern können sich sehr viel früher bei jungen Kindern manifestieren. Inzwischen liegen gute repräsentative, bevölkerungsbezogene Studien vor, die zeigen, dass weltweit ca. 10 – 15 % aller Kinder unter dem Alter von 6 Jahren von klinisch relevanten psychischen Störungen mit Beeinträchtigungen im Alltag betroffen sind. Damit sind psychische Störungen bei ihnen genauso häufig wie bei älteren Kindern und Jugendlichen.

Störungen in diesem Alter sind durch eine hohe Entwicklungsdynamik und durch die enge Einbettung in die Beziehung zu den versorgenden Bezugspersonen gekennzeichnet. Sie sind vielgestaltig und differenziert, können aber gut abgeklärt und behandelt werden. In der Vergangenheit wurden sie häufig nicht erkannt und übersehen. Die letzten Jahre waren durch eine Zunahme von Forschungsaktivitäten in diesem Bereich gekennzeichnet, wobei die meisten Studien in Englisch publiziert wurden und nicht leicht zugänglich waren. Inzwischen liegen auch im deutschsprachigen Bereich Übersichten [1], Monographien [2], Leitfäden [3] und Elternratgeber [4] zu psychischen Störungen bei jungen Kindern vor. Ein besonderer Gewinn sind die interdisziplinären S2k-Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (AWMF 028/041), bei denen auch die pädiatrischen Fachverbände maßgeblich beteiligt waren [5]. Diese ermöglichen einen guten Einstieg in die klinische Diagnostik, Beratung und Therapie.

Das Ziel dieser kurzen Arbeit ist es, praxisorientiert zu vermitteln, welche Zeichen und Symptome zu beachten sind und wie psychische Störungen bei jungen Kindern diagnostiziert werden können. Aspekte der Beratung und Therapie werden nur kurz erwähnt. Dabei sollen sich die Empfehlungen an den Leitlinien orientieren [5].

Diagnostik

Wie in anderen Bereichen der Medizin steht die Diagnostik an erster Stelle. Ein Anliegen der Leitlinien war es, dass die Grunddiagnostik psychischer Störungen in allen Behandlungskontexten möglich sein sollte. Die Diagnostik erfordert klinische Erfahrung und vor allem genügend Zeit. Unverzichtbare Bestandteile der Basisdiagnostik sind die klinische Anamnese, psychopathologischer Befund (d. h. die deskriptive Beschreibung des beobachtbaren Verhaltens), die Interaktions-/Beziehungsdiagnostik und die körperliche Diagnostik (siehe Tabelle 1). Die Anamnese sollte ausführlich und detailliert sein und orientiert sich an den Empfehlungen der amerikanischen Leitlinien [6]. Nach der Anamnese folgt die klinische Beobachtung des spontanen Verhaltens, der Interaktion und der Beziehung. Wegen möglichen somatischen Begleit- oder Grundkrankheiten sowie entwicklungsneurologischer Auffälligkeiten darf auf eine körperliche Untersuchung nicht verzichtet werden. Standardisierte Instrumente können diese Basisdiagnostik sinnvoll ergänzen, wenn sie indiziert sind, sie sind aber nicht in jedem Fall notwendig. Die wichtigsten Instrumente sind in Tabelle 1 aufgeführt.

Nach Abschluss der Diagnostik sollte es möglich sein, eine Diagnose zu stellen – oder auszuschließen. Darüber hinaus können auch subklinische Symptome vorliegen, die zwar nicht die Kriterien für eine psychische Störung erfüllen, aber dennoch belastend und beeinträchtigend sein können. Sie können als Vorläufer späterer Störungen wirken. Eine Beratung bei belastenden Symptomen kann auch ohne Diagnose sinnvoll sein.

Um die entwicklungspsychopathologischen Besonderheiten dieses Lebensabschnitts adäquat zu berücksichtigen, hat sich neben dem bewährten Klassifikationssystem der ICD-10 [7] das spezielle, auf junge Kinder ausgerichtete Klassifikationssystem DC:0-3R [8] bewährt. Die Leitlinie empfiehlt deshalb eine Diagnosestellung der psychischen Störung des Kindes sowohl nach ICD-10 wie auch nach DC: 0-3R. Wenn eine Störung nach beiden Systemen festgestellt werden kann, sollte sie mit beiden Diagnosesystemen erfasst werden. Eine deutsche Übersetzung der Kriterien der DC:0-3R findet sich bei von Gontard [2].

Neben der Hauptdiagnose einer psychischen Störung des Kindes soll in jedem Fall auch eine mögliche Beziehungsstörung erfasst oder ausgeschlossen werden. Dazu ist die Einteilung der DC:0-3R sehr hilfreich, nach der ausgeprägte Beziehungsstörungen für die jeweiligen Dyaden von Kind und Bezugspersonen klassifiziert werden. In der Beziehungsdiagnostik werden die Qualität des interaktiven Verhaltens, der affektive Ton und die psychische Involvierung erfasst. Natürlich kann auch eine Beziehungsstörung ohne psychische Störung des Kindes vorliegen – und erfordert auch dann eine Beratung. In Tabelle 2 finden sich zusammengefasst die Diagnoseempfehlungen der Leitlinien [5].

Psychische Störungen des jungen Kindes

Das Spektrum psychischer Störungen bei jungen Kindern ist groß, was noch einmal die Notwendigkeit einer genauen und spezifischen Diagnostik unterstreicht. Allein aufgrund des Alters können manche Störungen ausgeschlossen werden, z. B. Anorexia nervosa, Bulimia nervosa, schizophrene Psychosen, Agoraphobie und Persönlichkeitsstörungen.

Manche Störungen wurden von den Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter nicht berücksichtigt, wie Teilleistungsstörungen (z. B. der Sprache, der motorischen Entwicklung), Intelligenzminderung (geistige Behinderung) oder tiefgreifende Entwicklungsstörungen (wie Autismus-Spektrum-Störungen). Für diese Störungen ist es typisch, dass die Komorbiditätsrate mit anderen psychischen Störungen erhöht ist. Auch wurden diese Leitlinien auf die häufigen und relevanten Störungen beschränkt. Andere seltenere Störungen bei jungen Kindern sind u. a. Tic- und Zwangsstörungen sowie der elektive Mutismus.

Für alle Störungen ist es typisch, dass sie erst ab einem Mindestalter diagnostiziert werden können. Tabelle 3 gibt deshalb nicht nur eine Übersicht über die Vielfalt der häufigsten 12 Störungen wieder, sondern auch deren Altersspezifität.

Die wichtigsten Leitsymptome dieser 12 Störungsgruppen sind in Tabelle 4 wiedergegeben, die nur als grobe Orientierung gewertet werden darf. Wichtige Aspekte zur Diagnosestellung wie Häufigkeit, Dauer, Zahl der Symptome und Grad der Beeinträchtigung sind darin nicht erwähnt. Manche Störungen können nur nach der DC:0-3R oder der ICD-10 diagnostiziert werden, bei anderen ist dies mit beiden Systemen möglich.

Bei den Fütter- und Essstörungen können 6 verschiedene Subtypen nach DC:0-3R unterschieden werden, die auch komorbid auftreten können, d. h., ein Kind kann 2 oder mehr Essstörungen aufweisen. Sie haben unterschiedliche Ätiologien und werden differenziert nach unterschiedlichen Schwerpunkten behandelt.

Ein- und Durchschlafprobleme sind im ersten Lebensjahr so häufig, dass sie nach der DC:0-3R erst ab dem Alter von 12 Monaten als Störungen gelten.

Das persistierende exzessive Schreien ist weder nach der DC:0-3R noch nach der ICD-10 als Diagnose vorgesehen. Nach neuen Studien sind Säuglinge, die übermäßig schreien und dieses Verhalten auch über das Alter von 3 Monaten beibehalten, in ihrer Entwicklung gefährdet. Deshalb wurde diese Problematik von den Leitlinien besonders gewürdigt [5].

Entgegen der deutschsprachigen Tradition, die unter Regulationsstörungen die Trias von Schreien, Fütter- und Schlafstörung sowie allgemeine Regulationsprobleme im Rahmen der Eltern-Kind-Interaktion versteht [9], sieht die DC:0-3R diese Störung als Reaktion des Kindes auf externale Stimuli. Es werden 4 verschiedene Subtypen unterschieden, die bisher noch nicht optimal operationalisiert worden sind.

Die Ausscheidungsstörungen können grob nach ICD-10 diagnostiziert werden, wobei so wichtige Störungen bei jungen Kindern wie die Toilettenverweigerung (Miktionen auf Toilette, Defäkation in Windel) nicht berücksichtigt sind.

Die internalisierenden Störungen von Depression und Angst werden häufig übersehen, da die Kinder still und zurückhaltend sind und nicht stören [4]. Das wichtigste Leitsymptom der Depression ist die Anhedonie, d. h. der Verlust an Freude am Spiel und an Aktivitäten. Bei den Angststörungen können 4 verschiedene Subtypen unterschieden werden, die wiederum kombiniert auftreten können.

Anpassungsstörungen entstehen vorübergehend nach Verlusten und Veränderungen in dem Umfeld des Kindes und bilden sich oft zurück. Bei jungen Kindern ist die verlängerte Trauerreaktion besonders beeinträchtigend.

Die Posttraumatische Belastungsstörung entsteht in zeitlicher Latenz nach einem schweren Trauma und ist durch die Trias von Hyperarousal, Vermeidung und Reinszenierung des Traumas gekennzeichnet. Diese Störungen gehen oft mit einer schweren Beeinträchtigung im Alltag einher.

Bindungsstörungen entwickeln sich nach schweren Misshandlungs- und Vernachlässigungserlebnissen und zeigen sich in langfristigen Defiziten einer tragfähigen Beziehungsgestaltung.

Kinder mit externalisierenden Störungen fallen durch ihr störendes Verhalten auf und werden deshalb häufiger und schneller vorgestellt. Besonders die Kombination von ADHS und Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten ist im Langzeitverlauf ungünstig. Eine frühe Diagnose und Behandlung ist in diesen Fällen besonders wichtig.

Beziehungsstörungen

In Tabelle 5 sind die wichtigsten Leitsymptome der Qualität der Interaktion bei Beziehungsstörungen vereinfacht zusammengefasst. Zur Diagnose nach DC:0-3R müssen noch der affektive Ton und der Grad der psychischen Involvierung berücksichtigt werden. Das Konstrukt einer Beziehungsstörung ist von hoher praktischer Relevanz wegen der engen Verbindung von kindlichem Verhalten und Bezugsperson.

Beziehungsstörungen sind mit einer ungünstigen Prognose für eine kindliche Störung verbunden. Deshalb soll nach den Leitlinien auch dann eine Beratung erfolgen, auch wenn (noch) keine psychische Störung beim Kind vorliegt. Dies kann prophylaktisch wirken und das Entstehen einer späteren kindlichen Störung verhindern. Auch sind eigene elterliche psychische Störungen (wie Depression oder Persönlichkeitsstörungen) bei Beziehungsstörungen häufig. Beratung und Behandlung der Eltern kann in diesen Fällen angezeigt sein. Bei schweren Beziehungsstörungen kann das Kindeswohl gefährdet sein. Bei misshandelnden Beziehungsstörungen steht der Schutz des Kindes im Vordergrund.

Beratung und Therapie

Eine Beratung ist immer angezeigt bei allen psychischen Störungen des Kindes, aber auch bei subklinischen Symptomen. Sie wird auch empfohlen bei Beziehungsstörungen, selbst wenn keine kindliche Störung vorliegt.

Eine Behandlung ist indiziert, wenn eine psychische Störung vorliegt und das Kind und die Familie beeinträchtigt sind. Psychotherapien sind Mittel der ersten Wahl. Eine Pharmakotherapie mit Stimulanzien kommt in dieser Altersgruppe nur bei Kindern mit gesicherter ADHS in Frage.

Nach differenzieller Indikationsstellung können unterschiedliche psychotherapeutische Verfahren und Anwendungsformen indiziert sein. Immer soll die wirksamste, möglichst ambulante Behandlungsmethode gewählt werden. Das therapeutische Spektrum umfasst Eltern-Kind- und Elterntrainings, Eltern-Säuglings- und Eltern-Kleinkind-Psychotherapien, Einzelpsychotherapien des Kindes, Therapien mit Fokus auf die Paar- und Familiendynamik, Psychotherapien und psychiatrische Behandlung der Eltern, systemische Familientherapie und bei schweren Formen tagesklinische und stationäre Behandlungen. Assoziierte Therapien (wie Logopädie, Ergotherapie, Heilpädagogik, Physiotherapie und/oder Psychomotorik) sowie Jugendhilfemaßnahmen können ebenfalls nach entsprechender Indikationsstellung sinnvoll sein.

Zusammenfassung

Das Ziel der Arbeit war es, wichtige frühe Zeichen von psychischen Störungen bei jungen Kindern zu vermitteln. Bei einem Verdacht sollten sowohl das Vorhandensein von kindlichen psychischen Störungen wie auch von Beziehungsstörungen erfasst oder ausgeschlossen werden. Erst eine exakte Diagnose ermöglicht eine gezielte und wirksame Therapie. Dazu können die neuen Leitlinien hilfreich sein.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Psychische Störungen sind bei jungen Kindern häufig und vielgestaltig. Sie können klinisch diagnostiziert und behandelt werden.
  • Die Diagnosekriterien der ICD-10 und der DC:0-3R sollten dazu verwendet werden.
  • Neben einer psychischen Störung des Kindes soll immer auch eine Beziehungsstörung erfasst oder ausgeschlossen werden. Dazu ist es wichtig, frühe Hinweise zu erkennen.
  • Die neuen, interdisziplinären Leitlinien bieten eine praktische Orientierung.

Literatur:
1. von Klitzing K, Döhnert M, Kroll M, Grube M (2015) Psychische Störungen in der frühen Kindheit. Dt Ärztebl 112: 375 – 385
2. von Gontard A (2010) Säuglings- und Kleinkindpsychiatrie – ein Lehrbuch. Kohlhammer Verlag, Stuttgart
3. Bolten M, Möhler E, von Gontard A (2013) Leitfaden: Psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter: Exzessives Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen. Hogrefe Verlag, Göttingen
4. Fuhrmann P, von Gontard A (2015) Depression und Angst bei Klein- und Vorschulkindern – ein Ratgeber für Eltern und Erzieher. Hogrefe Verlag, Göttingen
5. AWMF (2015) Leitlinien zu psychischen Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (S2k) AWMF Nr.: 028/041
6. AACAP (1997) Practice parameter for the psychiatric assessment of infants and toddlers (0-36 Months). J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 36 (10 Suppl): 21S – 36S
7. World Health Organisation (1993) The ICD-10 classification of mental and behavioural disorders – diagnostic criteria for research. Geneva
8. ZERO TO THREE (2005) Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and childhood: Revised edition (DC:0-3R). Washington, D.C., ZERO TO THREE Press
9. Papousek M, Schieche M, Wurmser H (Hrsg.) (2004) Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Verlag Hans Huber, Bern


Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Alexander von Gontard

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg
Tel.: 0 68 41/16-1 43 95
Fax: 0 68 41/16-1 43 97

Interessenkonflikt: Der Autor hat keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2015; 86 (6) Seite 341-347