Im Umgang mit seltenen Erkrankungen suchen nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte häufig Rat. Sind Sie auf der Suche nach Experten, qualitätsgesicherten Informationen oder Forschungsaktivi­täten in diesem Bereich? Die ACHSE-Lotsin Dr. med. Christine Mundlos unterstützt ratsuchende Ärzte bei dieser Suche. Sie vernetzt und recherchiert. Wie und wann genau kann sie helfen? Das erklärt sie im Interview mit der Kinderärztlichen Praxis.

Im Interview:


Dr. Christine Mundlos ist ACHSE-Lotsin für Ärzte und Therapeuten – sie unterstützt, berät und vernetzt Ärzte bei Fragen zu seltenen Erkrankungen. ACHSE steht für Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e. V.

Kontakt:
Dr. med. Christine Mundlos, M.Sc.
Stellv. Geschäftsführerin ACHSE Lotsin für Ärzte und ­Therapeuten
Leiterin ACHSE Wissensnetzwerk und Beratung
Tel.: 0 30/3 30 07 08-0, Fax: 01 80/5 89 89 04
E-Mail: christine.mundlos@achse-online.de

Wie viele Anfragen von Ärzten erhalten Sie etwa im Jahr?
Mundlos:
In der ACHSE-Beratung haben wir ca. 800 Kontakte pro Jahr, der überwiegende Teil sind Patientenanfragen, nur ca. 10 Prozent kommen von Ärzten. Dabei müsste auch hier der Bedarf nach Informationen eigentlich groß sein. Vermutlich sind hier die Zentren für seltene Erkrankungen wichtige Ansprechpartner.

Können Sie ein paar Beispiele aus Ihrer Arbeit als Lotsin nennen, in denen sich Kinderärzte an Sie gewandt haben?
Mundlos:
Eine Kinderärztin wandte sich an mich wegen eines 1-jährigen Kindes mit einer suspekten Hauterscheinung am Unterschenkel, die wohl seit Geburt bestand. Es gab sonst keine weiteren Auffälligkeiten. Die Patienten-Mutter war mit dem Kind beim Dermatologen, der die Diagnose Incontinentia pigmenti (Bloch-Sulzberger-Syndrom, eine seltene X-chromosomal-dominante Erbkrankheit) gestellt hat.

Wie konnten Sie weiterhelfen?
Mundlos:
Ich kontaktierte die Humangenetik an der Charité. Die Humangenetik hielt die Diagnose – auch anhand der mitgesandten Fotos – für nicht wahrscheinlich und empfahl eine Vorstellung in der Kinderdermatologie der Charité. Die Kinderärztin wollte dies mit den Eltern besprechen und dann ggf. für eine Überweisung sorgen.

Eine andere Kinderärztin aus dem Raum Stuttgart meldete sich wegen eines 1,5-jährigen Kindes mit ungeklärten Fußläsionen (Blasenbildung) und Verdacht auf eine seltene Hauterkrankung. Das Kind entwickelte sich motorisch zurück, da es nicht mehr auf den schmerzenden Füßen laufen konnte.

Ich kontaktierte unsere Mitgliedsorganisation I.E.B. DEBRA e. V., die sich um Betroffene mit Epidermolysis bullosa kümmert. Diese riet dringend dazu, das Kind in der Hautklinik am Uniklinikum Freiburg vorzustellen, damit zeitnah die richtige Diagnose gestellt werden kann. Den Eltern war es leider nicht möglich, nach Freiburg zu fahren. Sie stellten sich in einer anderen Hautklinik in der näheren Umgebung vor. Dort wurde eine Hautbiopsie sowie eine Blutprobe entnommen und nach Freiburg geschickt. Eine Epidermolysis konnte ausgeschlossen werden. Jedoch fand sich ein seltenes Syndrom der „sich schälenden Haut“, ein Akral-Peeling-Skin-Syndrom konnte­ ­genetisch bestätigt werden. In Abstimmung mit Freiburg wurde das Kind dann weiter versorgt.

Was antworten Sie beispielsweise einem Kinderarzt auf die Frage, wie die Transi­tion seines 18-jährigen Patienten mit einer seltenen Erkrankung erfolgen kann?
Mundlos:
Wir als Dachorganisation beraten nicht krankheitsspezifisch, das übernehmen die Patientenselbsthilfeorganisationen. Ich würde dann an die jeweilige Selbsthilfeorganisation verweisen. Dort kann man sich erkundigen, wie das aktuell gehandhabt wird. Wenn es keine Organisation gibt, die die Erkrankung richtig abbildet, suche ich in unserem Netzwerk, wo sie am besten hinpassen würde und vermittele den Kontakt. Oder ich frage in meinem Medizinnetzwerk bei den entsprechenden Experten nach. Ich bin sozusagen eine lebendige Schnittstelle – aus der Patientenselbsthilfe heraus in die Medizin und Forschung. Ich stelle keine Diagnosen und gebe auch keine Therapieempfehlungen, sondern höre mir in der Beratung den Bedarf der Ärzte an und vernetze mit den richtigen Ansprechpartnern.

ACHSE ist eigentlich ein Netzwerk von Selbsthilfeorganisationen für Betroffene. Wie kam es 2009 zu dem Angebot für Ärzte?
Mundlos:
Das Angebot kam aus der Erkenntnis in der Patientenberatung heraus, dass es einfach viele Fragen in der Versorgung gibt. Auf allen Seiten, auch bei den Ärzten. So kamen wir damals zu dem Schluss: Wir brauchen eine Schnittstelle in die Medizin, die auf die Bedarfe der Ärzte eingeht. Indem sowohl Patienten als auch Ärzte sich bei uns melden, wissen wir, wo die Probleme liegen und können agieren. Zum großen Teil sind das auch übergeordnete, gemeinsame Probleme, die bei vielen seltenen Erkrankungen bestehen.

Was zeichnet Ihre Beratung aus?
Mundlos:
Wir haben in der Zwischenzeit einen hohen Vernetzungsgrad in Medizin und Forschung im Feld der seltenen Erkrankungen erreicht. Wir wissen um die Probleme aus dem Blick der Patienten und der Ärzte. Damit haben wir ein Wissen, das die Ärzte nicht haben können: Wie es sich mit dieser bestimmten Erkrankung lebt, wie man sich damit im Gesundheitssystem bewegt etc. Das ist ein wichtiges Wissen für die Betreuung der Patienten, denke ich. Und wir bieten Recherchen an. Also: Wir versuchen zu unterstützen, zu vernetzen, wir setzen uns für Ärzte ein, wir ebnen den Weg zu einer guten Lösung in der Versorgung.

Arbeiten Sie auch mit der Industrie ­zusammen?
Mundlos:
Natürlich, wir brauchen die Pharmaindustrie genauso wie alle anderen Player in diesem Feld. Sie stellt hoffentlich die Medikamente her, die wir dringend brauchen. Aber das läuft natürlich immer nach den Regeln, die von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe vorgegeben sind. Da sind wir sehr transparent, der nötige Abstand muss natürlich gewahrt bleiben. ACHSE setzt sich sehr dafür ein, dass Patienten frühzeitig in Studien/Forschungsprozesse eingebunden werden. Hier kann auf den enormen Wissensschatz/das Erfahrungswissen der Patientenselbsthilfe zurückgegriffen werden. Das hat auch die pharmazeutische Industrie erkannt. Es ist unser gemeinsames Anliegen, dass nicht an den Patienten und ihren Bedürfnissen vorbeigeforscht wird.

Übrigens: Der Service der ACHSE-Lotsin ist kostenlos. ACHSE e. V. benötigt aber Spenden, um u. a. dieses Angebot aufrechterhalten zu können und würde sich daher sehr über eine unterstützende Spende freuen.


Interview:
Angelika Leidner
Redaktion Kinderärztliche Praxis
Kirchheim-Verlag
Wilhelm-Theodor-Römheld-Straße 14
55130 Mainz

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2022; 93 (2) Seite 95-96