Kinderarzt Stephan Nolte weist anhand konkreter Beispiele auf derzeitige Schwachstellen und Probleme hin, die eine notwendige schnelle Hilfe für Kinder oft nicht möglich machen – mit entsprechenden Folgen für die Kinder. Was läuft nicht optimal? Und was können Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte tun?

Das Protrahieren ist zum Markenzeichen unserer Gesellschaft geworden. Es ist heute kaum möglich, irgendetwas spontan zu erledigen, es braucht Termine, die zunehmend per Internet gebucht werden müssen, und die in der Regel mit Wartezeiten verbunden sind. Hat man einen solchen Termin in ein paar Monaten gebucht, etwa beim städtischen Ordnungsamt oder der Führerscheinstelle, ist man bei der Wahrnehmung des vereinbarten Termines oft erstaunt, von gähnender Leere umgeben zu sein. Denn Termine, die erst in ein paar Wochen oder gar Monaten stattfinden sollen, haben eine große Chance, vergessen, oder nicht wahrgenommen zu werden.

Inhaltlich machen die Wartezeiten überhaupt keinen Sinn. Warum und was soll in 3 Monaten besser sein als heute? Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen. Und was ich heute nicht schaffe, schaffe ich auch in 3 Monaten nicht. Wer weiß jetzt schon, was dann ist?

Der imperative Charakter des Kindes

Kindliche Forderungen sind von ihrer Unaufschiebbarkeit geprägt, je jünger das Kind ist, umso mehr. Wenn ein Kind Durst hat, hat es hier und jetzt Durst, und es nutzt nichts, wenn man ihm sagt, dass es nachher, später, was trinken kann. Auch Harndrang duldet keinen Aufschub – sonst geht es daneben. Natürlich muss ein Kind mit zunehmendem Alter lernen, dass sich nicht alle Bedürfnisse sofort erfüllen lassen. Das ist eine Frage der Reife und der Erziehung. Beim Neugeborenen und beim jungen Säugling ist es offensichtlich, aber auch Bedürfnisse älterer Kinder sind unaufschiebbar und sollten es im Interesse der Kinder auch sein. Der Zeithorizont von Kindern ist ein anderer, und das müssen wir ernst nehmen.

"Kinder sind nicht Menschen von morgen, sie sind Menschen im Heute" (Janus Korzcak)

Ich erlebe in den letzten Jahren zunehmend, dass es in mit Kindern befassten Institutionen, Behörden, Beratungsstellen, aber auch in Kinderarztpraxen selbst in Notfällen und selbst bei sehr kleinen Kindern nicht möglich ist, zeitnah notwendige Hilfe zu bekommen. Die Corona-Maßnahmen und Ereignisse haben dies noch verstärkt.

Frühe oder zu späte Hilfen?

Eindrucksvoll und besonders folgenreich habe ich es vor allem bei Neugeborenen erlebt, bei denen psychosoziale Hilfsangebote, etwa im Bereich der Frühen Hilfen, Wochen und Monate protrahiert werden. Wenn etwa die Mutter eine schwere Wochenbettdepression hat, macht es keinen Sinn, in mühsamen Telefonaten vielleicht in 3 oder 6 Monaten eine stationäre Aufnahmemöglichkeit zu bekommen – es muss hier, jetzt und sofort gehandelt werden, um den Entfremdungsprozess zwischen Mutter und Kind nicht noch zu verstärken. Es ist ein echter Notfall, genauso schlimm wie etwa ein Herzinfarkt.

Frühe Hilfen werden in meinen Augen häufig zu zu späten Hilfen. Viele, wenn nicht die meisten Situationen sind vorhersehbar und machen eine vorausschauende Betreuung notwendig: etwa, wenn die Gynäkologin oder der Gynäkologe eine minderjährige Schwangere, eine Drogenabhängige oder einfach nur sozial hilfebedürftige Schwangere betreut. Hier wäre es Pflicht und Aufgabe der betreuenden Ärztin oder des betreuenden Artes, mit Hebammen und Kinder- und Jugendärztinnen oder -ärzten Kontakt aufzunehmen und ein überbrückendes Hilfsangebot aufzubauen – nicht erst, wenn das Kind dann da ist, vielleicht eine Woche vor Weihnachten oder zu irgendeinem anderen unpassenden Zeitpunkt, an dem keine der vielen gut gemeinten Institutionen erreichbar ist, wie ich es in der Praxis oft genug erlebt habe.

Plädoyer für eine aufsuchende Betreuung im frühen Neugeborenenalter

Als wir vor Jahren in Vorbereitungsgesprächen eines flächendeckenden aufsuchenden Betreuungssystem, wie es in vielen europäischen Ländern existiert, über den optimalen Zeitpunkt entsprechender Hausbesuche diskutierten – ein Vorhaben, welches längst in den Schubladen verschwunden ist – waren sich die "Fachkräfte" mehr oder weniger einig, dass etwa mit 2, 3 Monaten der beste Zeitpunkt sei. Das ist sicher ein guter Zeitpunkt, aber nur deswegen, weil sich bis dahin die Probleme von selbst auf die eine oder andere Art gelöst haben und keine Hilfe mehr nötig ist. Dann sind längst die Weichen gestellt, und wer ahnt dann noch, in welche Richtung. Auch die Pädiaterin bzw. der Pädiater kommt zu spät, wenn sie/er das Kind bei der U3 zum ersten Mal, und dann in einer völlig überfrachteten Situation sieht. Falls sie/er überhaupt den Willen hat, die Lebenssituation der ihr/ihm anvertrauten Kinder kennenzulernen.

Es geht nicht nur darum, Vernachlässigung und Gewalt vorzubeugen, sondern auch, ein Interesse der Gesellschaft, der Gemeinde an guten Bedingungen für das Heranwachsen von Kindern zu demonstrieren. Die Frage, die eine solche aufsuchende Beratung stellen muss, ist die: Was können wir, die Stadt, das Gemeinwesen, für Sie, für Ihr Kind tun, damit es gut, sicher und behütet aufwachsen kann? Leider hat sich der Grundtenor der Frühen Hilfen aus einem anderen Blickwinkel entwickelt, dem eines sozialen Frühwarnsystems und nicht aus der Perspektive einer bindungsfördernden, zuversichtlichen Unterstützung.

Derzeit leisten in unserem Lande vor allem die Hebammen in diesem Bereich Großartiges. Sie bauen die Brücke von der Schwangerschaft ins Wochenbett, während bei den Ärztinnen und Ärzten diese Form einer "Transition" noch gar nicht angekommen ist. Für den Geburtshelfer endet die Zuständigkeit für das Kind mit der Geburt, und die Pädiaterin oder der Pädiater kommt, von Notfällen abgesehen, erst später ins Spiel, anstatt vor der Geburt schon die Möglichkeit zu nutzen, die werdenden Eltern kennenzulernen und in ruhiger, entspannter Atmosphäre die gegenseitigen Erwartungen und das, was auf alle zukommt, zu besprechen.

Auffälligkeiten im Kindergarten

Besonders dramatisch erlebe ich derzeit bei Kindern mit sozialen Auffälligkeiten, ebenfalls verstärkt nach Corona, die Unfähigkeit einer zeitnahen Unterstützung, und das bei einer unübersehbaren Vielzahl von Einrichtungen, die es sich auf die Fahnen geschrieben haben. Die Bereitschaft von Eltern und pädagogischen Fachkräften, selbst aktiv zu werden, wird durch die heute anerzogene Gläubigkeit an Fachleute, an Spezialisten, massiv unterbunden.

Ein typischer Werdegang sieht etwa so aus: Ein 5-Jähriger, dessen Einschulung irgendwann droht, fällt durch sein Verhalten im Kindergarten auf, sagen wir, er sei etwas expansiv. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sind überfordert, haben keine Zeit und vielleicht auch Angst, etwas falsch zu machen, und dann geht der Marsch durch die Institutionen los: Die Kinderärztin bzw. der Kinderarzt hat dafür kein Ohr, verweist auf Frühförderstelle oder Sozialpädiatrisches Zentrum, ersteres vielleicht vor Ort, aber hat im Augenblick nur in ein paar Wochen Termine für eine Erstberatung, die eigentliche Frühförderung mit Entwicklungsdiagnostik, Kindergarten- oder Hausbesuchen ist erst in neun Monaten möglich – dann ist aber die Frühförderstelle vom Alter her nicht mehr zuständig. Das Sozialpädiatrische Zentrum, wahrscheinlich in einiger Entfernung, ist mit Terminen auf Monate ausgelastet, unter anderem mit hausgemachten Selbsteinweisungen, etwa der obligatorischen Frühgeborenen-Nachsorge, die ich in ihrer Sinnhaftigkeit keinesfalls bestreiten will. Für sie sollten aber eigene Strukturen aus der Neonatologie heraus geschaffen werden, die dafür schließlich auch finanziert wird. Und sie sollten mit entwicklungspädiatrisch orientierten Neonatologinnen und Neonatologen besetzt werden. Kommt es dann irgendwann zu einem Termin, muss laufzettelartig erst einmal ein Marsch durch andere Institutionen absolviert werden, jeweils wieder verbunden mit entsprechenden Wartezeiten: Pädaudiologie, Neuropädiatrie, Entwicklungsdiagnostik, Kinder- und Jugendpsychiatrie – und das häufig, ohne dass in der Zwischenzeit irgendetwas geschieht. Vielleicht wird es dann irgendwann möglich, eine Synopse zu erstellen, die irgendjemand dann mit den Eltern besprechen muss. Interdisziplinäre Förderrunden, die der Goldstandard sein müssten und alle Beteiligten an einen Tisch bringen, existieren nur theoretisch, sie sind personell und zeitlich in der Breite gar nicht durchführbar und bleiben wenigen komplexen Spezialfällen vorbehalten.

Fazit

Appell an die Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte, sich ihrer Kernaufgabe zu widmen: Kinder in einem sicheren und gesunden Großwerden zu unterstützen. Hier, jetzt und sofort. Seien Sie mutig, öffnen Sie sich den Problemen aus der Perspektive des Kindes. Fangen Sie die Bälle auf, die Ihnen zugeworfen werden. Bauen Sie sich ein Netzwerk kompetenter und zuverlässiger Kooperationspartnerinnen und -partner auf, und verlassen Sie sich nicht auf den Dschungel anonymer Institutionen und formaler Zuständigkeiten. Kooperieren Sie gut mit den Hebammen. Kinder und ihre Eltern brauchen das Gefühl, bei Unfällen, Krankheiten, Sorgen und Problemen nicht sich selbst überlassen zu sein. Und sie brauchen es in vielen Fällen jetzt und sofort, und nicht irgendwann.


Autor:
© Angelika Zinzow
Dr. Stephan H. Nolte
Kinder- und Jugendarzt/Psychotherapeut
Fachjournalist bdfj und freier Kulturwissenschaftler
Lehrbeauftragter der Philipps-Universität Marburg
Spiegelslustweg 20, 35039 Marburg/Lahn
Tel.: 0 64 21/16 22 77
Mobil: 01 72/3 72 88 44


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2024; 95 (2) Seite 121-122