Grundlagen, diagnostische Strategien, Entwicklungstherapien und Entwicklungsförderungen. Von Richard Michaelis und Gerhard Niemann unter Mitarbeit von Renate Berger und Markus Wolff. 5. überarbeitete und erweiterte Auflage, 448 Seiten, 2017, Thieme Verlag, Stuttgart. ISBN 9783131185358; 99,99 Euro

Dieses Buch ist eines der wenigen neuropädiatrischen Standardwerke in deutscher Sprache. Seit seiner Erstauflage 1995 wurde es jetzt wesentlich überarbeitet und erweitert. Sein Erstautor Richard Michaelis, der die Entwicklungsneurologie der vergangenen 40 Jahre in Deutschland ganz wesentlich geprägt hat, verstarb im Januar 2017. Im Vorwort charakterisiert sein Mitautor G. Niemann ihn treffend: "Sein Charisma, seine Feinheit im Umgang mit den Menschen und im Zugang zu den Themen, seine empathische Bezogenheit, Offenheit und Verletzlichkeit, sein Reichtum in der Inspiration – sie fehlen".

Gegenüber der Vorauflage von 2010 ist in den Titel jetzt noch "Entwicklungstherapie und Entwicklungsförderung" aufgenommen worden. Für den Rezensenten ist es nicht einfach, in gekürzter Form eine kritische Würdigung dieses umfangreichen Werkes zu verfassen.

Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass kein anderes Spezialfach der Pädiatrie eine so umfangreiche Verknüpfung mit anderen Fachgebieten der Medizin, der Psychologie, der Pädagogik, den Rehabilitationswissenschaften und vielem mehr hat und damit ein hohes intellektuelles Niveau in Anspruch nimmt.

Begriffsdefinitionen und Grundlagen

Auf den ersten Seiten werden die Begriffe Entwicklungsneurologie, Neuropädiatrie und Entwicklungspädiatrie definiert, wobei der Erstautor besonderen Wert auf die neurologischen Aspekte der Entwicklung legt. Seine Ausführungen zu den Grundlagen der Entwicklung des Menschen sind ein Überblick zur Evolutionsbiologie und berücksichtigen auch philosophisch-anthropologische Aspekte. So beschäftigt er sich immer wieder mit der Theorie der neuralen Gruppenselektion nach G. M. Edelman, der Bedeutung des "Mandelkern-Systems" im neuronalen Netzwerk des ZNS und der reziproken Koppelung von Genetik und Erfahrung. Wesentliche Grundlagen der Entwicklung des Menschen ab dem Embryonalstadium sind die 4 As: Arousal, Activity, Affect und Attention.

Er setzt sich kritisch mit der Lehrmeinung von J. Piaget auseinander und differenziert die Begriffe Plastizität und Theorie der Spiegelneurone. Entsprechend dem CEC-Modell von S. Pauen spricht er von Entwicklungsgeneration durch Teilhabe bzw. Bindung, präverbale Kommunikation, Objektbeziehung, Magie und Imitation. Wegen der enormen Variabilität der frühkindlichen Entwicklung benutzt er den Begriff der Entwicklungspfade, mittels derer die sprachliche, motorische, kognitive, soziale und emotionale Kompetenz bis zur Erlangung einer eigenen Identität verfolgt werden. Die von ihm wesentlich mitdefinierten Grenzsteine der Entwicklung werden ausführlich besprochen und als "Warnsystem" gedeutet.

Neues Kapitel: frühe Verhaltensstörungen

Das Kapitel zu den frühen Verhaltensstörungen wurde neu eingefügt und weist besonders auf das Problem der psychisch kranken Mütter und die Störung der Selbstregulation mit der Gefahr der Überstimulierung hin. Interessant für die Praxis sind seine Ausführungen zu den Begriffen "Schulreife, Schulfähigkeit und Schulbereitschaft". Seiner Ansicht nach werden frühe Lern- und Verhaltensstörungen immer noch zu spät erkannt, entsprechend fordert er vehement eine differenzierte Diagnostik bei allen entwicklungsauffälligen Kindern, bevor mit Therapien an einem Symptom operiert wird. ohne die Gesamtheit der Probleme zu erfassen.

Teil II: Neurologische Beeinträchtigungen

Im überwiegend von G. Niemann verfassten Teil II des Buches werden die enorm vielfältigen Ursachen für definierte neurologische Beeinträchtigungen bei Kindern besprochen. In den Kapiteln "somatische Störungen, funktionelle und transiente Störungen einschließlich den Epilepsien, Hirnnervenstörungen, Störungen der Motorik, der Kognition und der Interaktion" wird ein beeindruckendes Spektrum auch seltenster Erkrankungen mit wenigen Worten, aber aktuell recherchierten Angaben besonders zur Genetik, z. T. nur in tabellarischer Form, vorgestellt. Die Differenzierung der Ataxien, der Dystonien und anderer motorischer Störungen ist beeindruckend, ohne dass hierbei aber eine Reihung nach der Häufigkeit vorgenommen wurde. Der Rezensent hat in seiner fast 4 Jahrzehnte langen Tätigkeit als Neuropädiater sicher nur einen Teil der Krankheitsbilder gesehen, wahrscheinlich aber auch einige übersehen.

Teil III: Entwicklungsfördernde Therapien

Im Teil III werden Basiskonditionen entwicklungsfördernder Therapien besprochen ohne auf spezifische Techniken einzugehen. Besondere Bedeutung wird dem empathischen Umgang des Therapeuten mit dem Kind und den Eltern beigemessen – in den ersten Lebensjahren sollte bei der Therapie keine Trennung des Kindes von seinen Bezugspersonen stattfinden. Festgelegte Übungen, die sich an der idealen Motorik oder Sprache orientieren, werden abgelehnt und immer wieder die individuelle, variante und adaptative Entwicklung jedes Kindes betont. Motorische und sprachliche Abläufe sollten durch Wiederholungen in eine Automatisierung überführt werden, Angstbesetzte Übungen sollten vermieden werden. Imitation im sozialen Kontext ist das biologisch effektivste Lernsystem, weshalb besonders Alltagssituationen und abgesprochene, erreichbare Ziele therapeutisch genutzt werden sollten. Besonderer Wert wird darauf gelegt, neben den zu fördernden Funktionen auch den psychosozialen und emotionalen Kontext des Kindes in seiner Familie zu berücksichtigen.

Ohne genauere Angaben wird die Manualtherapie nach R. Sacher z. B. bei Kindern mit Haltungsasymmetrien befürwortet, zu den "speziellen Methoden", die nur erwähnt werden, gehören Laufbandtraining, CIMT und Botulinumtoxin-Behandlung, die vor allem "childfriendly" sein sollten.

Auch in den Ausführungen zur Sprachentwicklung wird die enorme Variabilität betont und deutliche Kritik sowohl am Konzept von N. Chomsky als auch an der Forderung, jedes Kind solle mit 2 Jahren mindestens 50 Worte sprechen, geübt. Hier wird auf das Fehlen einer normativen und repräsentativen Studie zur Sprachentwicklung bei deutschen Kindern hingewiesen.

Kritische Anmerkungen

Nachfolgende kritische Anmerkungen mögen für zukünftige Ausgaben eine Anregung sein. So vermisse ich einige exakte Definitionen, z. B. für die Begriffe "geistige Retardierung", "peripartal", multizystische Enzephalopathie oder "Vena Galeni-Aneurysma". Die Gesellschaft für Neuropädiatrie wurde nicht 1974, sondern 1975 gegründet. Mehrere Tabellen im Teil II sind überfrachtet und zu klein geschrieben.

In den ersten Lebensjahren sollten Kinder mit Verhaltensstörungen, z. B. exzessivem Schreien oder Autismus-Spektrumstörung, nicht "automatisch" an die Kinder- und Jugendpsychiatrie abgegeben werden – in vielen pädiatrischen Einrichtungen können sie zumindest bis zum Schulalter kompetent im interdisziplinären Austausch versorgt werden.

Besonders der Abschnitt über Entwicklungstherapien und -förderung beschränkt sich auf grundlegende Aussagen zu den "Basiskonditionen" und verlangt vom Leser, sich mit den verschiedenen Techniken bereits vertraut gemacht zu haben. Die mit Recht immer wieder geäußerte Warnung vor übermäßigen Therapiemaßnahmen wird z. B. bei der recht pauschalen Befürwortung von Manualtherapie für Säuglinge nicht ausreichend differenziert. Problematisch sind auch die Aussagen zur ADHS – die Störung bestehe in der Regel lebenslang und benötige fortwährend Medikamente.

Leider ist das Buch relativ textlastig, es enthält neben den genannten Tabellen einige Diagramme und Schemata sowie Kinderbilder, die vor allem der Auflockerung dienen, aber nur geringe klinische Relevanz haben.

Diese Monographie dient nicht dem Einstieg in die Thematik, sie ist das Manifest einer speziellen entwicklungsneurologischen Schule. Das Buch eignet sie sich als Nachschlagewerk in entwicklungsneurologisch-neuropädiatrischen Spezialeinrichtungen und vor allem als Repetitorium für Kolleginn/en, die sich für eine Prüfung zur Anerkennung im Schwerpunkt Neuropädiatrie vorbereiten, – kann letztlich aber allen, die sich mit der Faszination des Faches intensiver beschäftigen wollen, empfohlen werden.

Prof. i. R. Dr. H. M. Straßburg, Gerbrunn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (4) Seite 271-272