Silylle Scheewe zeigt auf, was wir anlässlich der massiven Flüchtlingsströme beachten und lernen müssen. Für diesen Beitrag hat sie im September 2016 den Preis für Transkulturelle Pädiatrie verliehen bekommen.

Für diesen Beitrag hat die Autorin anlässlich der 68. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) im September 2016 in Hamburg den Preis für Transkulturelle Pädiatrie verliehen bekommen. Mit dem mit 1.000 Euro dotierten Preis möchte die DGSPJ die dringend notwendige wissenschaftliche Diskussion über die gesundheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund versachlichen und einem breiteren interdisziplinären Fachkreis zuführen.

Flüchtlingsströme gibt es in jeder Zeitepoche. Die gegenwärtigen massiven Ströme nach Europa fördern in uns aber nun eine Reflexion über die eigene Kultur bzw. über die Neujustierung gewohnter Verhaltensmuster.

Was müssen wir beachten?

"Transkulturell" ist nicht nur auf Sprachräume bezogen, sondern berücksichtigt soziale und individuelle Unterschiede in der Lebensführung. Transkulturelle Medizin als ärztliche Aufgabe bedeutet, einer eventuellen Ungleichbehandlung, die nicht gerechtfertigt ist, entgegenzuwirken, um die Gesundheit des Einzelnen zu verbessern. Dabei hilft die Erinnerung an Menschen oder Dinge, die für uns Heimat bedeuten. Sie prägen uns und sind ein wichtiger Teil unserer Kultur.

Transkulturelle Medizin in Bezug auf Flüchtlinge konfrontiert uns Ärzte mit unserem medizinischen "Urwissen", z. B. Prävention ansteckender Erkrankungen (Tbc, Hepatitis), Impfungen, Wundversorgung bei Geflüchteten aus Kriegsgebieten. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist ein Beispiel transkultureller Interaktion.

In diesem Aufsatz werden Themen der Transkulturalität anhand von Beispielen aus der Medizin und aus anderen Lebensbereichen erörtert. In allen Kulturen, über Kontinentgrenzen, über die soziale Schichtzugehörigkeit und Lebensaltersabschnitte hinweg, sind uns dieselben Lebensereignisse und Erfahrungen wichtig. Transkulturelle Hürden entstehen aus den unterschiedlichen Lebensverläufen, die das Individuum geprägt haben. Uns verbinden Erfahrungen wie Erleben der Geburt eines Kindes, das Draußensein in der Natur, die Taufe eines Kindes oder Rituale des Erwachsenwerdens, Respekt vor der Altersruhe, das Glücksgefühl in einer Gemeinschaft.

Was uns trennen kann

Was wir in der Kindheit erlernten, kann uns trennen. Ob jemand etwas mit der rechten oder linken Hand anfasst, hängt davon ab, ob er aus Europa oder einem asiatischen Land kommt. Dort gilt die linke Hand als unrein, da sie ausschließlich für die eigenen Hygienemaßnahmen verwendet wird. Gebräuche trennen uns dann nicht, wenn wir uns ihren Ursprung – hier der Mangel an sauberem Wasser zum Händewaschen – bewusst machen. Auch wenn die positiven Erfahrungen mit anderen Kulturen überwiegen, so gibt es Risikofaktoren, beispielsweise die "Kultur der Ehre", die in extremer Form jüdische und christliche Werte ausgrenzt. Nur 12 % der muslimischen Jugendlichen identifizieren sich mit dem europäischen Einwanderungsland, 56 % mit dem Herkunftsland. Doch werden junge Leute durch die Umgebung geprägt, sodass sich verinnerlichte Gebräuche in neuer Umgebung auch wieder neu ausprägen können.

Die andere Kultur – unser Ergänzungsprinzip

Jeder Mensch ist sowohl Selbstverwirklicher als auch Gemeinschaftsmensch. Wir leben diese 2 Pole im Alltäglichen, das ist menschentypisch. Welcher dieser Pole für uns eine besondere Bedeutung hat, ist interindividuell und interkulturell unterschiedlich. Je weniger wir mit anderen Kulturen persönlich im Kontakt sind, desto mehr grenzen wir uns von der anderen Kultur ab. Eine positive persönliche Begegnung berührt emotional und verbindet. Sich der eigenen Kultur bewusst zu werden, ist die Grundlage gelungenen transkulturellen Denkens und Fühlens. In Abbildung 1 sind Grundwerte und Kulturtechniken exemplarisch dargestellt.

Geht es um das Verständnis der anderen Kultur, sind sowohl Lebensgeschichte als auch Lebensraum des Patienten zu beachten. Unsere Denkstrukturen, Erwartungen und Werte halten wir für allgemeingültig und "übersetzen" bei Symptomschilderungen diese Beschreibungen in unser Wertesystem. Unsere Lebensumstände prägen jedoch Unterschiede im Empfinden für Familie, Autonomie und Zeit. Ein Beispiel ist der große Respekt vor sozialer Distanz in der türkischen und afghanischen Bevölkerung: Das ältere Familienmitglied ist als Respektsperson hoch angesehen. Übersetzungen durch Kinder, wenn den Eltern eine schwerwiegende Diagnose mitgeteilt werden soll, sind nicht hilfreich, da die Kinder ihren Eltern deren "Schwäche" nicht mitteilen. Die Erkrankung wird als autoritätsschwächendes Phänomen verstanden.

Was müssen wir lernen?

Transkulturelle Medizin beinhaltet für den Kinderarzt das verbale und nonverbale Eingehen auf Symptomschilderungen. Schmerzäußerungen wie "meine Leber brennt" heißt im persisch/afghanischen Raum "mein seelischer Kummer ist besonders heftig". Es zeigt sich z. B. in migräneartigem Kopfschmerz und bedarf der Beruhigung durch kühlende Anwendungen, Pfefferminze, Schmerzmittel, beruhigende Gespräche. "Mein Außen ist heiß" deutet auf Hautekzeme hin und bedarf einer antiinflammatorischen Therapie. So kann Cortisoncreme als eine die Entzündung kühlende Creme erklärt werden.

Fazit: Es hängt von der transkulturellen Kommunikation ab, wohin ein gemeinsamer Weg führt. Stehen wir zu unserer eigenen Kultur und zu uns selbst, sind wir höflich und klar, bei Fremdem zunächst zurückhaltend, beobachten wir und erfühlen wir des anderen Gedanken, so sind wir uns nah und liebevolles Handeln kann gelingen.

Literatur bei der Verfasserin



Korrespondenzadresse
Dr. med. Sibylle Scheewe
Kinder- und Jugendärztin
Allergologie, Kinderpneumologie, NHV, Akupunktur
Fachklinik Sylt, OT Westerland


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (1) Seite 58-61