Kinderreha wird neu definiert: Nach dem jahrelangem Rückgang der Rehaanträge gibt es Mitteilungen, wonach die Rehaeinrichtungen bis zu 30 % Zuwachs in den ersten Monaten des Jahres 2017 erzielen konnten!

Wie war das mit dem Fortschritt – den anfangs keiner merkte? Die alte „Kinderkur der 50er Jahre“ hatte als Ermessensleistung der Krankenkassen und Rentenversicherungen ihren Charme und Glanz: Jeder, wirklich jeder, kannte sie, und Kuren waren für viele mit positiven Vorstellungen verbunden. Mit Gesundwerden durch „gutes Klima“ an der See oder im Gebirge und irgendwie auch mit „sanfter“ Medizin. Natürlich verbanden manche Kinder diese Zeit mit Heimweh, Sehnsucht nach den Eltern und dem Gefühl von Belastung – später dann doch aber auch oft Stolz, diese Zeit bei den „Tanten“ gut verbracht zu haben!

Andererseits waren die herkömmlichen Kuren jedoch nach den 80ern doch etwas in die Jahre gekommen und „moderne Mediziner“ konnten die Vorstellung von Gesundheit darin nicht mehr so ganz erkennen. Ein diffuses „Vokabular von gestern“ stand plötzlich einer technisch ausgerichteten und an Laborwerten orientierten Denkweise gegenüber.

Das spornte aber auch an: Ärzte und Leistungsträger renovierten sozusagen mit dem Millennium die verstaubte Kur [1]. Daraus entstanden aber neue Probleme. Es wurden weniger Anträge für Kinder und Jugendliche gestellt – anscheinend war der Qualitätsbegriff Rehabilitation statt „Kur“ zunächst für Manche zu sperrig? Und dass jetzt wirklich individuelle Ziele für das Kind geplant wurden, kam erst auch nicht gut rüber: Obwohl die Wandlung zur stationären Kinder- und Jugend-Rehabilitation den Kindern mehr Nutzen bringen konnte als „die bisherige Art von Gesundheitsferien“. Doch der Wandel wurde nicht nur durch evaluierte Diagnosen, angemessene Medikamententherapie und Krankheitswissen sichtbar. Deutlich stärker wurde nach und nach auch die Teilhabe akzentuiert. Konkret geht es dabei darum, in einer alltagsähnlichen Situation zu erproben, wie Einschränkungen durch die chronische Krankheit am besten zu bewältigen sind und was eventuell an Stärken und Ressourcen des Kindes erkannt und gefördert werden kann. Die Kliniken und ihre Teams wurden fachlich besser und kamen nun im 21. Jahrhundert an.

Kinderreha wird neu definiert

Doch der neue Reha-Tanker kam nur langsam in Fahrt. Die Leistungsträger, die früher leicht den Eindruck erweckten, vor allem durch Ablehnungen oder Verweis auf andere Leistungsträger („Kollege kommt gleich“) sparen zu wollen, zeigten allerdings in den Folgejahren zunehmend Flagge. Ihnen war klar, dass frühes Handeln meist besser ist als erst einmal abzuwarten. Ihr Ziel war nun, dass Familien und Ärzte derjenigen Kinder, die von dem positiven Wandel zur Reha profitieren können, auch vermehrt wieder diese Chancen ergreifen [2]. Im medizinischen Dialog seit den 90er-Jahren stieg die Anerkennung von Fachleuten bereits deutlich: Diese neue Form der Reha hatte beispielsweise für Asthma, Adipositas und Diabetes – aber auch für seelische Belastungen und Entwicklungsstörungen – bald ihre Bewährungsprobe bestanden. Zum Beispiel im Hinblick auf die Therapie von diagnosebedingten Folgestörungen, aber auch zur Unterstützung von Selbstmanagement. Eltern- und Familienorientierung gewannen immer mehr an Bedeutung und sollten in eine Rehakette oder ein Rehanetz mit vorbereitenden Maßnahmen und möglichst auch mit einer funktionierenden Nachsorge eingebettet werden. Nach dem geltenden Gesetz wurde aber ausschließlich der stationäre Aufenthalt finanziert – keine Aktivität vorher und keine danach.

Mit Flexirente zum Durchbruch?

Mit dem 08. 12. 2016 hat nun ausgerechnet ein Rentengesetz („Flexirentengesetz“) für chronisch kranke Kinder und Jugendliche einen Schub gebracht: Das dafür zuständige Arbeitsministerium, das Bündnis für Kinder- und Jugendrehabilitation angeführt von der Deutsche Gesellschaft für Päditatrische Rehabilitation und Prävention (DGPRP) [3], und Vertreter der DRV arbeiteten dabei intensiv zusammen und der Gesetzgeber ergriff diese Chance: Damit wurde die medizinische Rehabilitation von Kindern und Jugendlichen zur Pflichtleistung der Deutschen Rentenversicherung (DRV) (§ 15a SGB VI) aufgewertet, auch wenn es „nur“ um die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt geht. Zusätzlich wurde aber auch ganz offiziell die Tür für einen unbürokratischeren Weg in „die Reha“ geöffnet hin zu einer gemeinsamen Suche nach Wegen, wie Eltern besser einbezogen werden können und wie eine ambulante Nachsorge und Vorbereitung entwickelt werden kann.

Die DGSPJ, die im Bündnis für Kinder- und Jugendreha von Beginn an einbezogen war, hat sich auf der Jahrestagung 2016 intensiv damit befasst und in der neuen Vorstandsperiode die Unterstützung für diese Weiterentwicklung verstärkt [4]. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) hatte mit Gespür schon Monate vorher begonnen, die kompliziert erscheinenden Fragen verständlich in einem Wegweiser für Kinder und Jugendrehabilitation im breiten Konsens von Kostenträgern, und Fachleuten, aber auch Elternvertretern (Kindernetzwerk) und Bildungspolitik zu erarbeiten [5]. Auch das ist ein Zeichen der neuen Situation: Es geht wirklich um Verbesserung der Inhalte und alle wirken mit, damit es auch gut wird!

Dieses Zusammen-Wirken zeigt jetzt Wirkung: Nach dem jahrelangem Rückgang der Rehaanträge gibt es Mitteilungen, wonach die Rehaeinrichtungen bis zu 30 % Zuwachs in den ersten Monaten des Jahres 2017 erzielen konnten!

Eine Menge bleibt noch zu tun

Wie sieht denn der Einbezug der Eltern aber konkret aus? Wie könnte eine „ambulante Reha“ aussehen? Welche Rolle spielen evtl. SPZ und Fachambulanzen?

Die DRV greift diese Fragen nun konkret auf und beginnt mit einem Workshop am 27. 06. 2017. Die Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, aber es wird nach und nach deutlich werden, was Reha heute schon kann und wieweit der Einbezug von Eltern gelingen kann. Konzepte müssen her, um auch bisher ausgeschlossene Kinder in eine Reha zu bekommen, die ihnen weiterhilft. Alles, was zusätzlich möglich wird, sehen wir als Rehafachleute positiv!


Das Kindernetzwerk ist von Beginn an dabei und machte Nägel mit Köpfen auf der Jahrestagung am 08. 07. 2017 in Aschaffenburg [6]. Dr. Annette Mund hat als Bundesvorsitzende das Thema aufgegriffen und Vertreter von BAR und Kinderreha eingeladen, um den Dialog zu intensivieren, an dem sie weitblickend bereits seit langem über die DGSPJ und das Bündnis für Kinder- und Jugendreha vorbereitend mitgewirkt hat.

Nach 25 Jahren in der Kinder- und Jugendreha fühle ich mich manchmal dem Traum einer umfassenderen Leistung für die Kinder und Jugendlichen näher. – Wir werden berichten …

Ein Beispiel aus dem Alltag (Mai 2017)
Was heute schon möglich ist und warum mehr als eine Diagnose benannt werden muss. Es lohnt, genauer hinzuschauen statt „durchzuwinken“ oder abzulehnen – oder es resigniert vorher zu lassen:

Eva März (Name geändert), 15 Jahre, ist mit einem Gewicht von 95 kg bei einer Körperlänge von 172 cm tatsächlich zu dick, das hat sich seit Jahren so entwickelt: Also klassische Indikation zur Jugendreha? Sie bringt einiges mit, was formal auch als Kontraindikation gelten könnte: „soziale Funktionsstörung“, Lernschwäche und Gedächtnisstörung sind im Befundbericht erwähnt. Sie lebte im Heim, weil die leibliche Mutter in der Schwangerschaft schon zu viel Alkohol konsumiert und sie später nicht angemessen versorgt hatte. Sie wechselte später in eine Pflegefamilie, hatte begonnen „Lügen“ zu erzählen, im Sinne von Wichtigtuerei. Verbunden mit der Lernschwäche scheint es jetzt, dass sie nicht gruppenfähig ist und wohl auch nicht für einen Weg in den „Arbeitsmarkt“ infrage kommt.

Nun beginnt eine Recherche, die bisher nicht in der Routine drin ist, aber vielleicht demnächst häufiger erfolgt: Eva hat gerade ein Praktikum in einer Klinikküche absolviert, da hat sie Gruppenfähigkeit bewiesen: Sie wurde positiv beurteilt! Trotzdem: Ohne Unterstützung und adäquate Einschätzung ihrer Grenzen UND Stärken wird es wohl doch schwer werden. Sie hat aber in der „neuen Familie“ einen guten Rückhalt finden können, konnte Einsatz zeigen und hat eine Kinder- und Jugendhilfe-Mitarbeiterin, die mit ihr „die Reha“ plante, sie motivierte und sogar zu einem „Schnupperbesuch“ in der Rehaklinik begleitete. Sie wird auch nachher ein Auge drauf haben können und das Mädchen begleiten können.

Bisher wäre sie möglicherweise nur wegen Adipositas zugewiesen worden! Und, wenn sie den Anfang der Reha ungeschickt gestaltet hätte und die Rehamitarbeiter nicht vorbereitet gewesen wären auf Probleme in der Interaktion, wäre sie vielleicht sehr schnell gescheitert „wegen fehlender Gruppenfähigkeit“. Aufgrund der guten Vorbereitung wurden nun aber Probleme nicht übersehen, sondern richtig eingeschätzt und angemessen begleitet.

Dr. Matthias Schmidt Ohlemann, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation, mahnte in einer Diskussion im November 2016 an: Es gibt eine Gruppe Jugendlicher, die bisher scheitert – und damit technisch „dem Arbeitsmarkt verloren geht“. Für sie schließt sich aber unnötigerweise die Tür zu einem Leben wie „andere“, mit bezahlter Arbeit und damit verbundenem Erleben, selbst etwas leisten und zum Gesellschaftsleben beitragen zu können.

Für Eva ist es jetzt schon möglich geworden, durch diese Tür zu gehen, weil sie ihr geöffnet wurde: von Pflegeeltern, der Jugendhilfe und engagierten Mitarbeitern der Rehaklinik. Dies sind viele Schritte in die richtige Richtung, wenn auch noch nicht „die endgültige Rettung“: Doch diese Schritte sollten wir künftig unbedingt öfters ermöglichen, es lohnt sich!

Literatur
1.Oepen J (2004) Rehabilitation unter dem neuen ICF-Paradigma. Kinderärztl Prax 75: 466 – 475
2.Positionspapier der gesetzlichen Rentenversicherung zur Kinder- und Jugendlichenrehabilitation 2012 http://www.deutsche-rentenversicherungde/Allgemein/de/Navigation/3_Infos_fuer_Experten/01_Sozialmedizin_Forschung/03_reha_wissenschaften/07_reha_konzepte/positionspapier_kinder_jugend_reha_2012_node.html
3.Kinder- und Jugendreha im Netz: http://www.kinder-und-jugendreha-im-netz.de/startseite/
4.Prioritäre Arbeitsfelder der DGSPJ-Vorstandsperiode 2017 – 2019 http://www.dgspj.de/wp-content/uploads/service-stellungnahme-arbeitsfelder-dgspj-vorstandsperiode-2017-2019.pdf
5.Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (2017) Wegweiser Kinder- und Jugendreha http://www.bar-frankfurt.de/rehabilitation-und-teilhabe/reha-kinder-und-jugendliche/
6.Kindernetzwerk – Jahrestagung http://www.kindernetzwerk.de/07_juli-2017



Korrespondenzadresse
Dr. med. Johannes Oepen
Ärztlicher Direktor der Klinik Viktoriastift
DGSPJ-Fachausschuss Stationäre Präventions- und Rehabilitationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche
Cecilienhöhe 3 , 55543 Bad Kreuznach


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (4) Seite 250-252