Kinderarzt Stefan Nolte versucht, werdende Eltern zu ermutigen, sich schon vor der Geburt mit der pädiatrischen Weiterbetreuung zu beschäftigen. Warum und wie das funktionieren kann, beschreibt er in seiner Praxiskolumne.

Sollte es uns als Kinder- und Jugendärzte nicht daran gelegen sein, die werdenden Eltern oder wenigstens die werdende Mutter schon vor der Geburt kennenzulernen? Bislang geschieht das allenfalls, wenn bei der Pränataldiagnostik irgendein krankhafter Befund erhoben wird.

So suchte mich kürzlich eine Schwangere auf, die von mir wissen wollte, wie das Leben mit einem Kind mit Morbus Down sein könnte. Durch die zunehmende Ausweitung der Pränataldiagnostik werden wir immer mehr mit Befunden konfrontiert, deren Bedeutung für das spätere Leben des Kindes wir gar nicht kennen. Relativ häufig werde ich mit pränatal diagnostizierten Harntraktanomalien konfrontiert. Gerade in diesen Fällen ist eine Deeskalation und Beruhigung der Eltern eine lohnende Aufgabe, die so manchen Krankenhausaufenthalt und komplikationsträchtigen Verlauf verhindern kann.

Sollten sich nicht alle Eltern schon vor der Geburt Gedanken machen, wo ihr Kind später betreut werden könnte? Wir erleben häufig, welche unglückselige Karriere Eltern mit ihrem Neugeborenen schon hinter sich haben, bis sie bei uns mit 4 Wochen zur U3 landen: Da wurden schon Notdienste aufgesucht, Klinikambulanzen konsultiert, mehrfach die Nahrung gewechselt, Kümmelzäpfchen, SAB-Tropfen und Globuli gegeben – Verzweiflung pur. Nun kann man das nicht immer verhindern, ich bin aber überzeugt davon, dass eine frühzeitige Anbindung der Eltern mehr Sicherheit im Umgang mit den Unruhezuständen ihres Neugeborenen gegeben hätte.

Aus diesem Grund habe ich versucht, eine Präsenz von Kinder- und Jugendärzten bereits in Geburtsvorbereitungskursen und bei Schwangeren-Infoabenden zu etablieren, um Eltern zu ermutigen, sich bereits vor der Geburt mit der pädiatrischen Weiterbetreuung zu beschäftigen. Das wird inzwischen sehr begrüßt und ist zum festen Bestandteil dieser Infoabende geworden.

Eine Vorstellung vor Geburt – vor allem vor Geburtshaus- oder einer Hausgeburt – ist häufig geworden und schafft eine ganz andere Verbindung zu einem jungen Paar, welches sich "in guter Hoffnung" ganz entspannt den Vorsorge- und Impfplan, die örtliche kinderärztliche Betreuung und die Notdienstorganisation erklären lässt. Eine kleine Sozialanamnese ist in diesem Rahmen auch viel leichter und entspannter, als wenn sich bei der ohnehin überfrachteten U3 die übermüdete Mutter mit dem schreienden Kind, der vollen Windel oder dem aufgeregten Vater erst mal mit den Parkmöglichkeiten und den Aufnahmeformalitäten auseinandersetzen muss.

Ein formaler Grund, den man für so eine "Vorstellung vor Geburt" anführen kann, ist das Stoffwechselscreening. Da für diese Untersuchung eine vom Arzt gegengezeichnete Einverständniserklärung unterschrieben werden muss, muss dazu auch die entsprechende Aufklärung erfolgen. Wer kann die zu screenenden Erkrankungen besser erklären als der Kinder- und Jugendarzt?

Das rechnet sich nicht, wird so mancher Kollege erklären. Wie soll ich denn die Schwangere abrechnen? Zum einen darf in vielen Kassenärztlichen Vereinigungen in einem gewissen Ausmaß "fachfremd" abgerechnet werden, zum zweiten kann man es auch als Akquisitionsleistung – also letztlich Werbeaufwand – sehen.

Vor allem zahlen sich aber die später eingesparte Zeit und die ganz andere Beziehung, die sich im Verlauf der weiteren Betreuung ergibt, in jeder Weise aus.



Autor:
Dr. Stephan H. Nolte, Marburg/Lahn


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2017; 88 (1) Seite 6