Kinderarzt Markus Landzettel beschreibt die Situation der Flüchtlinge sowie die Aufgaben und Herausforderungen, die dadurch auf die Kinder- und Jugendärzte zukommen.

Vor kurzem sind in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE) in Darmstadt – ähnlich wie in vielen anderen Regionen von Deutschland – die ersten 300 Flüchtlinge auf dem Gelände einer ehemaligen Bundeswehrkaserne aufgenommen worden, davon 100 Kinder. Da viele Kinder extreme physische und vor allem auch psychische Belastungen zu bewältigen haben, sind gerade wir Kinder- und Jugendärzte an der Basis stark mitgefordert. Und viele Kolleginnen und Kollegen zeigen auch tatsächlich Engagement. Und auch die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung ist erfreulich groß.

Schaut man allerdings in die Gesichter der Flüchtlinge, so kommt dort kaum Freude auf. Es gibt zwar bei den Kindern schon mal freudige Kleinkinderaugen, wenn sie nach langer Zeit ein neues (gespendetes) Spielzeug in der Hand halten. Es gibt aber auch Kinder, die die Flucht bislang in keiner Weise abschütteln konnten. Die Blicke noch scheu, wirken sie teils gelangweilt und teils traurig. Oder aber Mädchen, die sehr verschlossen sind und auch kaum die Hilfen der meist männlichen Helfer annehmen möchten. Es bleibt vorerst im Dunkeln, was sie alles erlebt und durchgemacht haben.

Uns Pädiater interessiert natürlich der – höchst unterschiedliche – gesundheitliche Zustand der Kinder und Jugendlichen. Viele haben aufgrund der schlechten hygienischen Bedingungen bei der Flucht einige hier gut behandelbare Erkrankungen mitgebracht. Beim Kinder- und Jugend-Kongress in München wurde allerdings auch berichtet, dass knapp die Hälfte der Flüchtlinge mehrfach traumatisierende Erfahrungen gemacht hat und die Rate der Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 10- bis 15-Fache(!) erhöht ist.

Zurzeit erleben die Flüchtlinge eine Phase der Untätigkeit. Zwischen den Essensausgaben ist nichts zu tun. Das mag nach einer längeren Flucht zunächst gar nicht so schlimm sein. Es kommt dann aber der Zeitpunkt, wo man wieder aktiv werden möchte. Die Möglichkeiten, sich einzubringen, sind aber sehr begrenzt. Zusätzlich müssen die Flüchtlinge neue, unvertraute Lebensumstände bewältigen, was ihre psychische Gesundheit zusätzlich beeinträchtigen kann. Das alles muss erst mal verarbeitetet werden. Kein Wunder, dass es bereits mitunter zu Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen gekommen ist.

Nun ist bei uns in Darmstadt die Verantwortung von der Stadt auf das Regierungspräsidium übergegangen. Es bleibt nur zu hoffen, dass das angekündigte Verbot(!), ehrenamtliche Helfersysteme nicht mehr in die HEAE zu lassen, wieder zurückgenommen wird. Denn ein Unterlassen einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Intervention hätte auch schwerwiegende Langzeitfolgen. Nicht rechtzeitig behandelte PTBS können chronifizieren und dauerhaft schwere Schäden an der seelischen Gesundheit bei jungen Menschen hinterlassen.

Sich dieser Gefahr präventiv entgegenzustellen, ist gerade eine Aufgabe der Kinder- und Jugendärzte und der Kinder- und Jugendpsychiater-/Psychotherapeuten. Keine leichte Aufgabe zwar, aber eine Herausforderung, die in diesen Zeiten absolut alternativlos ist, meint Ihr

Dr. Markus Landzettel, Darmstadt


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2015; 86 (6) Seite 330