Über -und Unterversorgung in der Medizin. Raimund Schmid (Hrsg.). 1. Auflage, 2021, 338 Seiten. Urban & Fischer (Elsevier), ISBN 978-3-437-24061-4; 24 Euro

Das deutsche Gesundheitswesen zählt weltweit zu den Besten. Dennoch kann nicht gerade behauptet werden, dass alles zum Besten stünde. Über- und Unterversorgung in allen Bereichen des Gesundheitswesens werden eindrucksvoll in dem von Raimund Schmid herausgegebenen Buch beschrieben. Der bundesweit bekannte Medizinjournalist, der unter anderem Redaktionsmitglied der Kinderärztlichen Praxis und zudem Mitbegründer von „Kindernetzwerk e. V.“ sowie der Zeitschrift „Kinder Spezial“ ist, hat mit ausgewählten Autoren der Medizin eindrucksvoll die schon seit Langem bestehenden Defizite im Gesundheitswesen einerseits und Gefahren der Überversorgungen andererseits beim Namen genannt.

Dabei kommen Fachleute aus der Kinderheilkunde, Jugendmedizin, Erwachsenen- und Seniorenmedizin aus dem Bereich Diagnostik (vor allem der Labor­medizin und Hochleistungsdiagnostik) sowie der Therapie und Betreuung zu Wort. Damit wird schnell ein roter Faden dieser umfassenden Thematik in diesem Sammelwerk erkennbar und es wird deutlich, wo der Schuh drückt.

Für den pädiatrischen Bereich – für diesen kann ich selbst als Pädiater und Sozialpädiater sprechen – steht der Beitrag von Prof. Klaus Peter Zimmer, Gießen, spiegelbildlich für viele. Denn er trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er die Einführung des DRG-Systems und damit das derzeitig gültige Klassifizierungsschema zu Krankheiten geißelt. Mit der Einführung dieses Schemas hat sich die Medizin von Patienten in vielen Fällen weit entfernt. Grund für dieses Phänomen ist die ehemalige Entscheidung des derzeitigen Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU, früher Bundesgesundheitsminister), solch ein Bewertungsschema zu Krankheiten als vermeintlich großen Entwurf in das Gesundheitswesen eingeführt zu haben. Was zu befürchten war, ist eingetreten und wird von Zimmer in seinem Buchbeitrag schonungslos aufgedeckt. Es geht aktuell vor allem um Diagnostik und nicht mehr primär um den Patienten selbst mit seinen oft breit gefächerten Krankheitsbildern. Verantwortliche Politiker im Gesundheitswesen haben bis heute missachtet, dass sie für chronisch kranke junge wie alte Patienten die Finanzierung von Pa­tienten im Krankenhaus niemals ausschließlich an einer einzigen Diagnose ausrichten dürfen. Laut Zimmer wird der Arzt aber durch die Ökonomisierung in der Medizin gezwungen, über die Festlegung einer solchen einseitigen Diagnose die Finanzierung seines Krankenhauses zu sichern. Damit sind nicht nur die Patienten selbst, sondern auch Pädiater und Pflegende nicht nur in Kinderkliniken medizinisch schlicht und einfach ins Abseits gestellt worden. Skandalös ist, dass 1. Schwerpunktkliniken Gewinne abwerfen sollen, aber dann 2. Gewinne nicht in die Optimierung der Krankenbehandlung zurückfließen.

Die Sinnhaftigkeit von übermäßig angewandten apparativen Untersuchungen oder Diagnostiken bezweifeln auch viele andere der 39 Autoren in ihren Beiträgen über die verbreitete Fehlversorgung hierzulande. Vielfach wird auch dort beklagt, dass ärztliches Handeln häufig zugunsten des Einsatzes überflüssiger oder gar unsinniger Untersuchungsmethoden, die sich kostenmäßig möglichst rasch amortisieren müssen, aufgegeben werden musste. In vielen Kapiteln wird deutlich, wie schwierig es dagegen aus Abrechnungsgründen oder Zeitmangel ist, eine umfassende biographische ärztliche Anamnese und Untersuchung am gesamten Körper zu erheben. Dabei ist nur so der Schlüssel zur ­Diagnose einer Krankheit zu finden. Auf dieser Basis kann entschieden werden, welche ­Diagnostik und Behandlung tatsächlich notwendig ist und welche nicht.

Von einem der Humangenetik nahestehenden Pädiater soll auch darauf hingewiesen werden dürfen, dass in Zukunft in einer hochqualifizierten Medizin gerade neue Untersuchungsmethoden sowie innovative Laborleistungen dennoch ihren Platz haben müssen. Warum das so ist, beschreibt Dr. Hanns-Georg Klein vom Medizinischen Versorgungszentrum Martinsried in ­seinem ­Beitrag „Wie wir das Potential der Humangenetik für die Diagnostik und die personalisierte Medizin besser nutzen können“ in vortrefflicher Weise.

Raimund Schmid stellt in dem Buch dankenswerterweise zudem mit seinen Autoren heraus, wie wichtig es ist, dass bei Krankheitsbildern, die im Kindesalter entstanden sind, aber oft bis in das Erwachsenenalter hinein reichen, eine Weitergabe von speziellem Wissen an weiterbehandelnde Ärzte und Pflegende unverzichtbar ist. Dieser Transfer ist für eine gelungene Transition unverzichtbar, findet aber strukturiert noch viel zu selten statt.

Zum Glück ist der Herausgeber auch auf die Probleme der Corona-Pandemie eingegangen. Denn dabei sind system­bedingte Defizite besonders offenkundig zu Tage getreten. Für umso bedeutender hält es Professor Ferdinand Gerlach als Sprecher des Gesundheits-Sachverständigenrates der Bundesregierung, dass solche durch mangelhafte Patientensteuerung und fehlende fachübergreifende Vernetzung von Fachleuten verursachten Defizite frühzeitig aufgedeckt werden müssen. Sein Geleitwort zum Buch schlägt auch die Brücke zur Politik. Die Themenpalette in Form eines Spiegelbild-Charakters muss Gesundheitspolitiker, Krankenhäuser, Krankenhausträger und die gesamte Ärzteschaft, aber auch Selbsthilfegruppen erreichen, sie alle aufrütteln und aus ihrem Dornröschenschlaf der Selbstüberschätzung aufwecken. Aus diesem Grund sollte dieses Buch nicht nur den Weg auf den Schreibtisch des Bundesgesundheitsministers finden, sondern auch die Abgeordnetenbänke all derer im Bundestag erreichen, die für das Gesundheits- und Sozialwesen verantwortlich sind.

Ein Letztes: Zu wünschen wäre dringend, dass der Herausgeber als nächstes den Pflegebereich mit einem weiteren Buch analysiert. Kompetente ärzt­liche Versorgung von Patienten kann nur dann dauerhaft gelingen, wenn das ­Desaster des Pflegenotstandes beim Namen genannt wird. Gerade hier haben wir es mit einer Form der Unterversorgung zu tun, die eklatanter und skandalöser nicht sein könnte.

Florence Nightingale als Begründerin der Krankenpflege würde – wen sie noch leben würde – Gewerkschaften und Politikern das Fürchten lehren ob ihrer Ignoranz zur Bedeutung einer wertgeschätzten Krankenpflege.



Autor
Hubertus von Voss
München

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2021; 92 (3) Seite 214-215