Versorgungsforschung für und mit Familien an der Uniklinik Freiburg.

Die Versorgung von Kindern mit chronischen Erkrankungen stellt viele Familien, aber auch Ärzte, Therapeuten und andere Behandler vor große Herausforderungen. Neben den Besonderheiten der jeweiligen Erkrankung erschwert vor allem die Fragmentierung der Versorgung zwischen Sektoren und Fachdisziplinen ein reibungsloses Zusammenwirken der Beteiligten. Die Schwächen des Systems treffen besonders Patienten mit komplexen und/oder seltenen Erkrankungen sowie Familien, die über geringere Ressourcen verfügen, um die komplexe Versorgungslandschaft zu navigieren. In einem Survey unter 1.567 Eltern chronisch-komplex erkrankter Kinder konnten beispielsweise nur 26 % der Antwortenden eine Ansprechperson nennen, die ihnen hilft, sich im "System zurechtzufinden" und geeignete Anlaufstellen zu identifizieren. Demgegenüber hatten 50 % der antwortenden Mütter ihre Arbeitsstunden reduziert und 26 % ihre berufliche Tätigkeit ganz aufgegeben, um genügend Zeit für die Betreuung des Kindes und die Koordinierung der Behandlung zu haben [1].

Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine Erkrankung, bei der diese Problematik besonders zutrifft. Sie gehört mit einer Inzidenz von 1:6.000 bis 1:10.000 zu den seltenen Erkrankungen. Insbesondere bei den beiden schwereren Verlaufsformen Typ 1 und 2, bei denen die Patienten nicht das freie Gehen bzw. das freie Sitzen erlernen, besteht bereits im Säuglings- und Kleinkindalter ein hoher Versorgungsbedarf, der in vielen Fällen eine nichtinvasive Beatmung oder eine Sonden-
ernährung einschließt. Hinzu kommen neue medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten, wie z. B. Nusinersen oder voraussichtlich das gentherapeutische Präparat Onasemnogen [2]. Hier besteht angesichts einer sehr begrenzten Datenlage zum Langzeitverlauf unter den jeweiligen Therapien ein sehr hoher Beratungsbedarf der Familien, die teilweise mit weitreichenden Entscheidungen konfrontiert sind.

Umfassende Betreuung der Familien

Um Familien, deren Kind an einer SMA Typ 1 oder 2 erkrankt ist, besser in der Versorgung zu unterstützen, entwickeln Ärzte und Versorgungsforscher an der Klinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen des Uniklinikums Freiburg ein maßgeschneidertes Case Management (CM). Das CM soll Familien kontinuierlich und langfristig beratend begleiten. In regelmäßigen, strukturierten Gesprächen im Abstand von 2 bis 3 Monaten bewerten Familien und CM gemeinsam die Versorgungssituation des Kindes. Dabei werden aktuelle Probleme, anstehende Termine, Kontrolluntersuchungen, ausstehende Befunde, beantragte Hilfsmittel, sozialrechtliche Aspekte, aber auch weiter in der Zukunft liegende Themen, z. B. Besuch des Kindergartens, thematisiert. Gemeinsam werden anschließend nächste Schritte vereinbart, Zuständigkeiten festgelegt und mögliche Ressourcen, z. B. zur weitergehenden Beratung, identifiziert (Abb. 1). Das CM verfügt über einen aktuellen Kenntnisstand zu den bestehenden Leitlinien, zu erwartenden Themen in der Versorgung der SMA (z. B. Impfungen in den Wintermonaten) sowie einen Überblick über die aktuellen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten der SMA, um spezifische Fragen bewerten und an die jeweilige Fachdisziplin weiterleiten zu können [3].

Als Projekt der Versorgungsforschung wird das CM umfassend evaluiert. Dabei wird zum einen untersucht, welche Faktoren für das Gelingen notwendig sind
(Prozessevaluation). Zum anderen wird im Sinne der Ergebnisevaluation der Einfluss des CM auf die Versorgungsqualität aus Sicht der Eltern sowie die Belastungssituation der Eltern analysiert. Ziele sind eine Steigerung der Versorgungsqualität und eine Reduktion der elterlichen Belastung.

Eltern spielen eine zentrale Rolle

Um mit dem CM möglichst gut die Bedürfnisse der Betroffenen zu erreichen, werden Eltern und Patientenvertreter von Anfang an in den Forschungsprozess einbezogen. In der ersten Projektphase wurden 20 Interviews mit Eltern SMA-betroffener Kinder geführt, um ihre Erfahrungen in Organisation und Koordination der Behandlung zu analysieren. Ergänzend führten teilnehmende Familien über 4 Wochen Betreuungstagebücher, um ihre Aktivitäten und den zeitlichen Umfang zu dokumentieren. Die vorläufigen Ergebnisse wurden am 29. 01. 2020 im Rahmen eines Symposiums Familien, Patientenvertretern, Ärzten, Therapeuten und anderen Behandlern präsentiert. Anschließend wurden in Arbeitsgruppen offene Fragen zur Einführung des CMs mit den Beteiligten diskutiert und Lösungsvorschläge erarbeitet.

Fazit

Zusammenfassend ist der bisherige Verlauf des Forschungsprojekts sehr positiv. Insbesondere die Beteiligung von Angehörigen am Forschungsprozess in unterschiedlichen Rollen (z. B. als Interviewpartner und als Workshop-Teilnehmer) ist vielversprechend. In der Versorgungsforschung werden partizipative Forschungsansätze immer wieder gefordert – die konkreten Erfahrungen sind bislang jedoch noch überschaubar. Mit dem Forschungsprojekt SMA-C+ ist die Hoffnung verbunden, durch das Case Management sowohl einen Beitrag zur Qualität zur Versorgungsqualität zu leisten und neue Wege in der Beteiligung von Patienten an der Forschung zu erproben.


Literatur
1. Kofahl C, Lüdecke D (2014) Die Lebens- und Versorgungssituation von Familien mit chronisch kranken und behinderten Kindern in Deutschland. Ergebnisse der Kindernetzwerk-Studie, A. P. d. A. Bundesverbandes (Hrsg.), Berlin
2. Pechmann A, Kirschner J (2017) Diagnosis and New Treatment Avenues in Spinal Muscular Atrophy. Neuropediatrics 48 (4): 273 – 281
3. Mercuri E, Finkel RS, Muntoni F, Wirth B, Montes J et al. (2018) Diagnosis and management of spinal muscular atrophy: Part 1: Recommendations for diagnosis, rehabilitation, orthopedic and nutritional care. Neuromuscul Disord 28 (2): 103 – 115



Korrespondenzadresse
PD Dr. Thorsten Langer
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin (Leiter des SPZs)
Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen
Uniklinik Freiburg

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (3) Seite 210-211