Am 09. 10. 2019 verstarb Dr. Hartmut Schirm im Alter von 77 Jahren in seiner Breisgauer Heimat. Die Nachricht löst Betroffenheit in der DGSPJ aus, die ihm für sein Engagement sehr dankbar ist und ihn vor diesem Hintergrund 2010 mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DGSPJ geehrt hat.

Als langjähriger Mitarbeiter am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin hat Dr. Hartmut Schirm die Arbeitsgruppe Münchner Pädiatrische Längsschnittstudie geleitet. Unter dem Titel "Pädiatrische neuromotorische Entwicklungsstörungen im Vorschulalter" wurden über eine Untersuchungs- und Auswertungszeit von fast 14 Jahren wesentliche Daten zur Entwicklungsbeurteilung von Kindern verfügbar gemacht.

Von 1988 bis 2000 war Dr. Hartmut Schirm Schriftführer im Vorstand der Gesellschaft und vertrat hier aktiv Themen des ÖGD. Über mehr als 20 Jahre leitete er bis 2007 das Referat Sozialpädiatrie in der Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf. Sein besonderes Anliegen, Erkenntnisse aus der Wissenschaft für die Praxis nutzbar zu machen, verwirklichte er hier in besonderer Weise: Für die Fort- und Weiterbildung für Ärzte, die eine Tätigkeit im ÖGD innehatten oder anstrebten, wurden passgenaue Angebote entwickelt. Insbesondere konzipierte Dr. Hartmut Schirm das nahezu legendäre Curriculum Sozialpädiatrie, das theoretische und praktische Inhalte verband und Inhalte der Schulgesundheitspflege und gemeinwesenorientierte KJGD-Arbeit in den Fokus stellte. Für den Zertifikatserwerb sind zu diesem Themenkreis mehrere Abschlussarbeiten auf Bachelorniveau entstanden. Ich durfte selbst erleben, wie zwei Ärztinnen aus meinem KJGD-Team nach Absolvieren des Curriculums Sozialpädiatrie mit noch mehr Inspiration und Tatkraft zu Werke gingen. Leider kam es trotz bester Resonanz der Teilnehmer – und der den Nutzen tragenden Kommunen – nicht zu einer Verstetigung dieses anspruchsvollen, aber auch Ressourcen beanspruchenden Angebots.

Ich selbst hatte das Glück, an einigen von Dr. Schirm geleiteten Workshops und Fortbildungsveranstaltungen teilzunehmen bzw. mitzuwirken. Dort ging es vornehmlich um folgende Themen: Konzeption und Ausgestaltung von Schulsprechstunden, kreative Konzepte, kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung, um dringend notwendige kommunale Angebote zu ergänzen oder auch um den Einsatz von sozialmedizinischen Assistentinnen in multiprofessionellen Teams zu optimieren. Gemeinwesenbezogene Netzwerkarbeit und die Notwendigkeit, institutionen- und systemübergreifend im ÖGD zu denken und zu handeln, wurden schon damals durch seine Person vorangebracht und ist mit seiner Persönlichkeit untrennbar verbunden. So selbstverständlich es klingen mag, dies erfolgte stets vorrangig mit kinderärztlich-sozialpädiatrischem Blick auf die Kinder und Familien, die es zu begleiten, zu unterstützen, zu beraten oder zu versorgen galt, sei es im Kontext Früher Hilfen oder der Schul- und Kita-Gesundheit. Ein wertschätzendes, partizipatives Vorgehen war dabei für ihn genauso selbstverständlich wie ein partnerschaftliches Umgehen mit den anderen Professionen, Institutionen und Systemen, die im Kontext von Kinder- und Familiengesundheit Bedeutung haben.

Wer Dr. Hartmut Schirm erleben durfte, wurde sogleich gefangen genommen von seiner liebenswürdigen Ausstrahlung und seinem unverwechselbaren Charisma. Ihm gelang es stets, Veranstaltungen mit charmant eingebrachten persönlichen Bemerkungen und Anekdoten zu bereichern, in denen sich oft seine Heimatliebe, seine optimistische Lebens- und Genussfreude, vor allem aber seine unendliche Bescheidenheit offenbarten. Diese konnte ihn aber nicht davon abhalten, seine Ziele hartnäckig im Auge zu behalten. So gelang es ihm, pionierhaft und maßgeblich, das Profil des Kinder- und Jugendgesundheitsdienstes als wichtigen Teil des ÖGD aufzubauen und zu gestalten.

Für sein berufspolitisches Engagement wurde Dr. Hartmut Schirm mit der Silbernen Ehrennadel des BVKJ und dem August-Steffen-Preis ausgezeichnet.

Ein großes Anliegen war ihm dabei stets auch der Blick auf europäische Nachbarn, vornehmlich Frankreich und Schweiz, die in manchen Entwicklungen voraus waren. Der (welt)offene Austausch, das Lernen voneinander und "grenzenlose" Zusammenarbeit waren für ihn ebenso unerlässlich wie selbstverständlich. Dabei profitierte er von seiner – von ihm selbst nie vorgebrachten – Anerkennung in Wissenschaft und Lehre.

Sein unverwechselbarer Humor kommt in prägnanter Weise in dem Gedicht zum Ausdruck, mit dem er sich bei der 62. Jahrestagung der DGSPJ in Potsdam für die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft bedankte. Wenngleich es seinerzeit in der Kinderärztlichen Praxis veröffentlicht wurde, soll es als Abschluss des Nachrufes an dieser Stelle noch einmal erscheinen- aus dankbarem Respekt vor einer Leitfigur der Sozialpädiatrie und einem ganz besonderen Menschen.

Für den Vorstand der DGSPJ
Dr. Ulrike Horacek


Homage an die Sozialpädiatrie

Gedicht von Hartmut Schirm, vorgetragen anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DGSPJ bei der 62. Jahrestagung in Potsdam (2009)

Es reicht an 40 Jahre hin,
dass ich Gesellschaftsmitglied bin;
und davon war’n es 16 Jahr,
die ich im Vorstand tätig war.

Rückblickend bleibt es unbestritten,
dass manchmal wir im Vorstand litten,
was denn sei Soziale Pädiatrie.
Gruß vom Sozialamt oder wie?

War das `ne Polygamie
mit Pädiatrie und Psychiatrie
Und noch vielen anderen Leuten
Wie Physio- oder Ergotherapeuten?

Gegner meinten: Pédiatrie Sociale
Ach, das könnten sie doch all!
Ein durch und durch Sozialpädiater
Ist nicht allein Spezialberater
Für Entwicklung und Therapie
Bei Malessen wie die Hyperkinesie.

Denn ums Kind als Individuum,
sping’n auch andere Kinder rum.
Und für’s Kind ist es nicht schnuppe,
was es wert ist in der Gruppe.

In Schule, Hort und Kindergarten,
da wo Kids ins Leben starten,
wird es ihnen kräftig nützen,
wenn wir sie auch dorten stützen.
Schließlich ist nicht zu vergessen,
Fort- und Rückschritt kann man messen.
Aus der „individual wealth“
Wird so was wie Public Health.

Die Gesellschaft wiederum
hat erstellt Curriculum.
Auf der Suche nach dem Wissen,
was Sozialpädiater wissen müssen,
findet man ganz fromm und frei:
statt einem Lehrbuch sogar zwei.

Aber: An den Unis gibt es nur
eine (!) Stiftungsprofessur.
Jetzt müssen wir in kleinen Stücken
berufspolitisch vorwärts rücken.

Im Alter wird der Mensch nicht größer,
sondern vielleicht adipöser.
So möchte ich, nicht nur den Schlanken,
zur ehrenvoll’n Ernennung danken.

Ich bin und war, im tiefsten Kern,
ein Mitglied der Gesellschaft gern.
Es gab für mich dort selten Frust,
dominant war stets die Lust.

Ich bewundre und verehre sie:
Die deutsche Sozialpädiatrie.


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2020; 91 (3) Seite 200-202