Die Masernepidemie im Frühjahr 2015 in Deutschland wäre absolut vermeidbar gewesen, sagt Kinderarzt Dr. Sander - und erklärt auch, warum.

Unübersehbar, unüberhörbar sind die Wogen im Frühjahr 2015 hochgeschlagen angesichts umfassender Berichterstattung über die wahrlich spezielle Masernepidemie in Deutschland.

Zahlreiche Gründe lassen sich anführen, warum eine solide Pädiaterseele sich voller Protest und Empörung – gepaart mit Unverständnis – erheben muss: Vorrangig nämlich deshalb, weil die gesundheitspolitisch wie ökonomisch eklatant belastende Krankheitswelle absolut vermeidbar wäre.

Der höchst bedauernswerte Todesfall eines Kleinkindes, das in Berlin an den Folgen seiner erlittenen Masernerkrankung sterben musste, hat viele erheblich wachgerüttelt und auffallend schnell sogar die Politik auf den Plan gerufen. Und doch war dieser letale Ausgang als tragischer Höhepunkt der Epidemie lediglich die berüchtigte Spitze des Eisberges. Für den erfahrenen Kinder- und Jugendarzt wirklich keine Überraschung. Denn in der ambulanten Pädiatrie wird kaum jemand die grundsätzliche Aufklärung über schwere Verlaufsformen sowie mannigfache Komplikationen einer Masern-Wildvirus-Infektion übergehen. Was aber immer einmal wieder Einzelnen von uns bei Gesprächen begegnet, lässt sich mit wenigen treffenden Worten zusammenfassen: Immun gegen die Vernunft! Heißt im Klartext, dass einerseits ideologische Gründe auf Elternseite eine zentrale Rolle spielen, andererseits – und das ist aus Praxissicht ein viel häufigeres Phänomen – die Diskussion um aktive Immunisierungen generell vom völlig falschen Ende hergeführt wird. Nämlich von einer immens getragenen Sorge um Impfnebenwirkungen. Wenn sich obendrein noch medizinisches Halbwissen im intellektuellen Umfeld hinzugesellt, ist das "Luxusproblem" komplett.

Nicht von ungefähr haben es gerade die Berliner Kollegen mit Familien zu tun, die manchmal mit Gottvertrauen auf STIKO-konformes Impfen ihres Nachwuchses verzichten und auf die Herdenimmunität der (geimpften!) Umgebung setzen. Von daher nimmt letztlich nicht wunder, dass es zu endemischen Infektionsausbrüchen eines hochkontagiösen Virus kommen muss. Die Landkartenverteilung gemeldeter Masernfälle in Deutschland beschränkt sich indes nicht allein auf die Berliner Region, sondern gilt genauso für andere Elite-Ballungszentren.

Bemerkenswert ist das Reaktionsmuster in speziellen Ortsteilen wie "Prenzlauer Berg", wo vor den Kitas bereits Eltern-Mahnwachen aufmarschieren, die zur Kontrolle des Masernimpfstatus aufrufen – wo sonst liberale Haltung großgeschrieben wird. So bizarr und überflüssig zugleich dieses sein mag, umso dankbarer könnten wir aktuell darüber sein, dass eine wichtige Impf-Präventions-Debatte einen so großen öffentlichen Raum erhalten hat.

Wir Kinder- und Jugendärzte sind daher aufgefordert, fachliche Beratung und Sachkenntnis beizusteuern. Jedoch mit dem standhaften Blick für die Belange des Kindes und mit kultursensiblem Feingefühl, da Eltern, die sich ausgiebig bereits bei "Dr. Google" ihre unumstößliche Meinung gebildet haben, schwer beizukommen ist.

Auch eine generelle Impfpflicht (so plausibel diese vielleicht sein mag) ist nur die zweitbeste Lösung. Denn Impfen sollte wieder zur Selbstverständlichkeit pädiatrischen Handelns werden – und die engagierte Aufklärung darüber ebenso. Wird es vielfach aber nicht an den Stellen, wo schriftliche Impfeinverständnis-Erklärungen aus Untersuchungsheften quillen – nur aus falschverstandener Arztsorge übers Aufklärungsprocedere.

Zurück zu den Ursachen der aktuellen Masernfälle. Schuld an der rasanten Verbreitung der Masern seien nicht die Flüchtlinge, sondern die deutschen Impfgegner, wird immer wieder kolportiert. Aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit, da das Masernvirus in den Wirren von Flüchtlingsunterkünften, wo primär aufgrund katastrophaler medizinischer Versorgung kaum geimpft wurde, leichtes Spiel für seine Ausbreitung hatte. Hier offenbaren sich organisatorische Fehlleistungen, weil schlichtweg Fachkräfte im öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) fehlen – ein eklatanter Mangel, der von der Deutschen Sozialpädiatrie angesichts abgespeckter Arztstellen im ÖGD wiederholt auch in der Kipra kritisiert worden war.

Nach der Epidemie ist vor der Epidemie. Dies unterstreicht nicht allein der Blick nach Afrika zu den Ebola-Infizierten. Auch vor unserer Haustür könnte sich ein weiteres Infektionsproblem entwickeln, für das mittelbar ausgerechnet die STIKO eine Mitverantwortung zu tragen hätte. In der aktuell gültigen Empfehlung zur Masern-Erstimpfung (MMR mit Mumps und Röteln) wird nämlich auf die kombinierte Varizellenimpfung (MMRV I) verzichtet. Schon heute sind stark rückläufige Verbrauchszahlen von VZV-Vakzinen (einzeln und in Kombination mit MMR) zu verzeichnen. Offenbar halten sich zahlreiche Pädiater an diese STIKO-Vorgabe, die gleichwohl kein (!) Verbot für MMRV I darstellt, und vernachlässigen so zusehends den Windpockenschutz, da die simultane VZV-Impfung oft ausgespart wird. Auch hier sollten wir miteinander bewusst und mit Weitblick gegensteuern, denn alle impfpräventablen Erkrankungen sind überflüssig.



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Dr. Bernhard Sandner


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2015; 86 (3) Seite 136