Der Jahreskongress der International Society for Social Pediatrics and Child Health (ISSOP) fand 2018 erstmals in Deutschland statt - mit rund 200 Teilnehmern aus 30 Nationen und einem bunten Themenmix. Ein Bericht.

Sozialpädiatrie widmet sich nicht nur der individuellen Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, sondern stellt im internationalen Kontext besonders die grundlegenden Aspekte von Public Health für ein gesundes Aufwachsen und die Chancengleichheit von Kindern in den Fokus.

Dies war eine der zentralen Botschaften beim Jahreskongress der International Society for Social Pediatrics and Child Health (ISSOP), der vom 27. bis 29. September 2018 in Bonn – und damit erstmals überhaupt in Deutschland – stattfand. Ausrichter des Kongresses war die Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ) in Kooperation mit dem Kinderneurologischen Zentrum der LVR-Klinik Bonn, der Europäischen Vereinigung der Schulärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst (EUSUHM) und dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH).

Die Entwicklungs- und Sozialpädiatrie im internationalen Kontext hat eine sehr differenzierte Ausrichtung auf das Gemeinwesen, auch mit notwendigen politischen Aktivitäten und Anwaltschaften für die Kinderrechte. Solche Aspekte, die auch die DGSPJ seit Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts verstärkt aufgenommen hat, werden aber in den westlichen Wohlstandsländern mit funktionierenden Sozialsystemen bisher insgesamt nur unzureichend im politischen Handeln wahrgenommen. Aktuell ist durch die öffentliche Debatte zu wachsender Kinderarmut und zur unzureichenden Förderung in den Lebenswelten durchaus das Bewusstsein geschärft worden, den politischem Willen zu verstärken, der systematischen Benachteiligung der Kinder in der Gesellschaft wirksam zu begegnen.

Ministerin stärkt Sozialpädiatrie

Die Bundesfamilienministerin Dr. Franziska Giffey schreibt in ihrem Grußwort zur Tagung: "Herzlich willkommen an alle, die aus der ganzen Welt nach Bonn gekommen sind, um über Entwicklungen in der frühen Kindheit zu diskutieren. Damit es jedes Kind packt, braucht es die Zusammenarbeit von Menschen, die unterschiedliche Berufe ausüben, unterschiedliche Perspektiven auf Kinder und Eltern einnehmen; es braucht die Zusammenarbeit verschiedener Systeme. Darum ist die Sozialpädiatrie so wichtig. Sie versteht sich als Querschnittsdisziplin, ihre Arbeit als Querschnittsaufgabe. Diese Sichtweise begrüße ich. Sie leitet auch meine Politik für den Schutz von Kindern und für ihre bestmögliche Entwicklung von Anfang an."

International haben die Vereinten Nationen als Richtschnur für die politische Agenda der kommenden Jahre die "Nachhaltigkeitsziele" (Sustainable Development Goals, SDG) formuliert, die 2015 in der UN-Vollversammlung als Grundlage für die "Agenda 2030" verabschiedet worden sind. Die 17 SDG-Bereiche beginnen mit dem Kampf gegen Armut und Hunger, umfassen Gesundheit, Gleichberechtigung oder das Recht auf Wasser und führen über den Klimaschutz bis hin zu Frieden, Gerechtigkeit und weltweiter Partnerschaft. Im SDG 4 Quality Education werden umfassend die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien aufgezeigt. Der Fortschritt in den einzelnen Bereichen wird in jährlichen UN-Foren evaluiert.

Erste 1.000 Tage sind entscheidend

Im Mai 2018 haben Weltgesundheitsorganisation die WHO und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF gemeinsam die besonderen Erfordernisse für junge Kinder unter dem Schlagwort "Die ersten 1.000 Tage sind entscheidend!" zusätzlich herausgearbeitet. Das Early Childhood Development Action Network (ECDAN) hat deshalb das Netzwerk Nurturing Care (in Deutsch etwa: Fürsorgliche Betreuung) gegründet, damit Kindern dabei geholfen wird, zu überleben, zu gedeihen und so ihr gesundheitliches und humanes Potential entwickeln zu können. Im Programm sind 5 strategische Aktionspläne ausgearbeitet zu den Themenkreisen

  • zielgerichtet Führen und Investieren,
  • Fokus auf Familie und ihren Lebensraum,
  • Maßnahmen und Dienste stärken,
  • Fortschritt erfassen, sowie
  • Datenerhebungen auswerten und in Innovation umsetzen.

Vor diesem definierten gesundheitspolitischen und sozialpädiatrischen Hintergrund stand der ISSOP-Jahreskongress in Bonn unter dem Leitgedanken: "Early Childhood Intervention: Science, Systems and Policies Promoting Healthy Development of Vulnerable Children". Die rund 200 Teilnehmenden aus 30 Nationen waren aufgerufen, unter diesen sehr verschiedenen Gesichtspunkten den wissenschaftlichen Stand von Forschungsaktivitäten ebenso mitzuteilen wie Beispiele einer gelingenden Umsetzung im konkreten Alltag. Da es im Vorfeld gelungen war, Repräsentanten von WHO und UNICEF sowie verschiedenen international tätigen Organisationen und Fachgesellschaften für die Teilnahme zu gewinnen, konnte anhand der gesammelten Informationen in der abschließenden Plenarsitzung der Grundstein gelegt werden für die geplante Bonn Declaration als praktischer Handreichung für Aktivitäten in der Sozialpädiatrie weltweit.

Bonn-Declaration für eine weltweite Sozialpädiatrie

Nach der Eröffnung durch Ute Thyen, Deutschland, und Jeffrey Goldhagen, USA, als Präsidenten der beiden Fachgesellschaften mit Überblicksreferaten zur Rolle nationaler Organisationen in der Weiterentwicklung sozialpädiatrischen Handelns sowie zu den zukünftig zu erwartenden Entwicklungen weltweit führte Donald Wertlieb, USA, in die Thematik ein. Giorgio Tamburlini, Italien, stellte in Bezug auf Hirnentwicklung und Neurowissenschaften dar, dass hier vielfältige wechselseitige Beeinflussungen durch die jeweils bestehenden fördernden oder hemmenden Rahmenbedingungen mittlerweile umfassend gesichert sind, also auch einen unmittelbaren Niederschlag auf der organischen Ebene finden. In den weiteren Sitzungen und Workshops wurde übereinstimmend die herausragende Bedeutung der Familie für Gesundheit, Gedeihen und Entwicklung gerade bei jungen Kindern herausgestellt. Die Beispiele von lokalen Projekten zeigten einerseits modellhaft die positive Beeinflussbarkeit durch Mittel der Information, vor allem aber der dezentralen Kontaktmöglichkeiten in Lebensräumen von benachteiligten Familien; andererseits verwiesen sie auf die drohende Gefahr gesellschaftspolitischer Fehlentwicklungen, wie Glenn Flores, USA, am Beispiel der Verschlechterung der Entwicklungssituation für benachteiligte Kinder an der Ostküste der USA in den vergangenen 20 Jahren aufzeigte.

Die integrierten Gesundheits- und Sozialdienste standen im Zentrum der Vortragenden für das Symposium des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH). Klinische und systemische Vorgehensweisen ebenso wie die Evidenz für Qualität wurden diskutiert.

Extreme Diskrepanzen bei Früherkennungsuntersuchungen

Mitch Blair, Großbritannien, verwies bei der Vorstellung der Früherkennungsuntersuchungen in Europa auf die enorme Diskrepanz beispielsweise in der Anzahl, die im Vorschulalter zwischen 6 und mehr als 30 Terminen schwankt, ohne dass hier bisher inhaltlich eine Evaluation für die Effizienz vorliegen würde. Alison Baum, ebenfalls Großbritannien, stellte mit ihrer App Baby Buddy eine mediale Informationsmöglichkeit vor, die gerade von jungen Eltern vielfältig genutzt wird. Ilona Renner, Deutschland, referierte ebenso wie Helia Molina, Chile, zum familienzentrierten Vorgehen in den Netzwerken Früher Hilfen bei sehr differenten politischen und finanziellen Rahmenbedingungen.

Die Europäische Vereinigung der Schulärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst (EUSUHM) verwies in ihrer Arbeitsgruppe auf die besonderen Chancen bei der Entwicklung von schulbezogener Gesundheit für ältere Kinder und Jugendliche. Beispiele aus Belgien, Deutschland und den Niederlanden verdeutlichten dies, wobei die Nachbarländer hier schon wesentlich weiter fortgeschritten sind. Antje Tannen, Deutschland, zeigte erste ermutigende Daten aus den regionalen Modellprojekten in Hessen und Brandenburg.

Zu früh geborene Kinder sind eine Risikopopulation in Hinblick auf nachfolgende Entwicklungsstörungen. Verena Vetter, Deutschland, referierte zu einem systematischen Trainingsprogramm für Eltern zum Aufbau einer verbesserten Selbstregulation der Babys. Peter Borusiak, Deutschland, stellte das hier bestehende Netzwerk der Sozialpädiatrischen Zentren in seinen langfristigen Begleitungsmöglichkeiten vor. Stefan Steinebach, Deutschland, berichtete zur Hilfsmittelversorgung bei CP-Patienten unter dem besonderen Blickwinkel der ICF-CY mit Berücksichtigung von Körperfunktionen, Alltagsaktivitäten und sozialer Teilhabe. In den internationalen Beiträgen zu diesen Themenkreisen hervorzuheben sind die Ansätze in Großbritannien mit dem Well Baby Plus Program, vorgestellt von Francis Rushton, und ein von Industrieunternehmen finanziertes Programm in Italien für Familien aus gesundheits- und bildungsfernen Schichten. Un villaggio per crescere, welches in 10 landesweit verstreuten Kommunen etabliert wurde und etwa 4.000 Familien erreichen wird, umfasst durch das Team um Giorgio Tamburlini ein spezielles psychoedukatives Unterstützungsprogramm in Verbindung mit Hausbesuchen sowie Anbindung an regionale soziale Netzwerke.

Neue Projektansätze für Flüchtlingskinder

Auch wenn das Thema der Kriegs-, Armuts- und Umwelt-Flüchtlinge seit 2015 europaweit in den meisten Ländern nicht mehr die große Brisanz wie zuvor besitzt, birgt es in einer globalisierten Welt dauerhaft Herausforderungen mit vielen ungelösten Fragen. Die Türkei bietet derzeit rund 3,5 Millionen Flüchtlingen eine Bleibe. In mehreren Vorträgen und Workshops wurden die dortigen umfassenden Unterstützungen und Ausbildungsprogramme für Kinder- und Jugendärzte zur Bewältigung der medizinischen Basisanforderungen in Flüchtlingscamps vorgestellt. Gleiches gilt für Griechenland; Stella Tsitoura zeigte im Video konkret Integrationsmaßnahmen für Jugendliche aus einem sozialen Problemviertel von Athen gemeinsam mit Jugendlichen aus einem benachbarten Flüchtlingscamp. Vortragende aus Dänemark und den Niederlanden betonten bei ihren Projekten die Notwendigkeit der dauerhaften Integration, gerade für unbegleitete minderjährige und in aller Regel männliche Flüchtlinge, in Ausbildung und Berufstätigkeit, um Eskalationen und Fehlentwicklungen zu vermeiden. Übereinstimmend wurde festgehalten, dass dies erfahrungsgemäß ab einer Aufenthaltsdauer von mehr als 36 Monaten in Camps oder separaten Flüchtlingsunterkünften der Fall ist.

Ein Höhepunkt des Kongresses war die Vorlesung von Franca Brüggen als Vertreterin von ICAN, Friedens-Nobelpreisträgerin 2017, zu "Friedenspolitik und Kindergesundheit". Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Nuklearwaffen hat erreicht, dass der UN-Vertrag zum Verbot von Atomwaffen 2018 verabschiedet worden ist und jetzt in den Umlauf zur Ratifizierung geht. Brüggen wies darauf hin, dass durch die Entwicklung neuer Waffengattungen mit vermeintlich nur regional beschränkter Wirksamkeit das Risiko für den Einsatz steigt, zumal neben den Großmächten zunehmend auch Entwicklungsländer über die entsprechenden technischen Ressourcen verfügen. Die Tendenz zu bewaffneten Konflikten ist in den letzten 10 Jahren weltweit steigend, was einen wesentlichen Faktor für Migration im Sinne der Flucht bedeutet. ISSOP hat auf diese Zusammenhänge bereits 2017 in der Budapester Erklärung Children on the Move ausführlich hingewiesen.

"Good policy is a form of preventive care"

Der Kongress endete mit einem politischen Plenum, moderiert von Donald Wertlieb, USA, und Helmut Hollmann, Deutschland. Hierbei gab Colleen Kraft, Präsidentin der American Academy of Pediatrics, USA, ein umfassendes Bild zu Tendenzen der Entwicklungsbeeinflussung unter veränderten politischen Rahmenbedingungen. Die Vertreter von WHO (Martin Weber, Europe Regional Office, Kopenhagen, und Bettina Schwethelm, Consultant für WHO, Genf) und UNICEF (Deepa Grover, Schweiz) haben dies ebenso wie die Beiträge von Helia Molina, Chile, für Südamerika sowie von Vibha Krishnamurthy, Indien, aufgegriffen.

Die DGSPJ beteiligte sich neben Moderationen sowie Vorträgen und Workshop-Gestaltungen mit dem gesamten Vorstand aktiv in Vorbereitung und Durchführung des ISSOP-Kongresses. Die ausgezeichnete Resonanz der Teilnehmenden bestätigte die Wahl des Veranstaltungsortes. Ute Thyen als DGSPJ-Präsidentin und Thorsten Langer als Wissenschaftlicher Kongressleiter haben in der inhaltlichen Vorbereitung die Hauptlast getragen, organisatorisch unterstützt durch Katarzyna Paul in der DGSPJ-Geschäftsstelle. Das Bonner Team mit Margit Horschel hat vor Ort für den reibungslosen Ablauf zusammen mit dem Universitätsklinikum Bonn gesorgt.

Begeisterte Teilnehmer richteten gleich einen Twitter-Account ein und zwitscherten: #ISSOP2018 Advocacy matters. Good policy is a form of preventive care.

Stimmt, so kurz kann man es auch sagen!

Präsentationen und Abstracts der Beiträge sind veröffentlicht auf der Internetseite der DGSPJ: www.dgspj.de/issop-2018/documentation/

Korrespondenzadresse
Dr. Helmut Hollmann
ISSOP-Kongresspräsident 2018

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (1) Seite 44-48