Die digitale Revolution hat nicht nur Vorteile. Kinderarzt Dr. Bernhard Sander findet es wichtig, Eltern und Patienten mit Nachdruck auch auf die Risiken hinzuweisen.

Was wir in der Sozialpädiatrie schon immer wussten – und uns sogar zu sagen trauten, hat kürzlich noch einmal prominenten Aufwind bekommen.

Die Rede ist von dem amerikanischen Internet-Pionier Jaron Lanier, ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der traditionell in einem Festakt am Schlusstag der Frankfurter Buchmesse verliehen wird. Hier hat Lanier der digitalen Welt gehörig den Marsch geblasen. Vielleicht ist dem einen oder anderen das schillernde, fast ein wenig skurril anmutende Erscheinungsbild dieser Persönlichkeit in Erinnerung geblieben, der zahlreiche Facetten hat: Literat, Musiker, Wissenschaftler, Unternehmer, Lehrer, Aktivist und Erfinder. Als solcher fordert er einen neuen Humanismus in der digitalen Welt und warnt vor den gesellschaftlichen Risiken der Digitalisierung. Diese entwickeln sich bekanntlich zu echten Gefahren gerade auch bei Kindern und Jugendlichen, kurz: Virtualität trifft Realität.

Denn ein jeder, der sich im Internet bewegt, hinterlässt einen täglich wachsenden Datensatz. Für Unternehmen wie Google, Facebook oder Amazon wird das Individuum dadurch immer berechenbarer, sodass sie zu wissen glauben, was jeder von uns als nächstes tun und lassen will und soll. Das bezeichnet Lanier als Ende der Freiheit. Es tut nicht einmal weh, weil jeder einzelne Schritt der digitalen Verwandlung als zwingend oder gar nützlich daherkommt. Wir alle hinterlassen – zunächst unbemerkt – verwertbare Fußspuren. Wer hat solches nicht selbst einmal gespürt, z. B. beim Internet-Stöbern zum Zwecke banaler Preisvergleiche? Ganz zu schweigen von den Netzauswüchsen bei speziellen Themen, die natürlich genauso die Privatsphäre von Menschen betreffen können, die einem öffentlichen "bashing" oder "shitstorm" oft schutzlos ausgeliefert sind. Spätestens aber seit den jüngsten Medien-Skandalen und Internet-Spionagen sollte sich für alle erhellt haben, dass durch die Digitalisierung gesellschaftliche Fragen berührt werden, die alle etwas angehen.

Laniers Ansprache in der Paulskirche stellt einen bemerkenswerten und heutzutage eher selten gewordenen Grundsatz heraus: die öffentliche Reflexion. Deswegen ist es hier wert, einige Schlaglichter hervorzuheben. So verteidigt der Preisträger die Einzigartigkeit des Menschen im digitalen Zeitalter und warnt davor, Computer und Netzwerke über das Menschliche zu stellen, den Menschen also klein zu machen. Die Frage des Menschenbildes steht damit im Kern der Debatte um die digitale Revolution, deren "dunkle Seite" er mit der eindringlichen Frage beschreibt, wie aus dem Kunden eines Unternehmens dessen Ware werden konnte. Und wie wurde aus den Instrumenten für einen schnellen, preiswerten und brüderlichen globalen Austausch ein geheimdienstliches Arsenal zur Kontrolle, Manipulation und Determinierung sozialen Handelns?

Die aufwühlenden Warnungen Laniers wiegen umso schwerer, da sie aus dem Gedankengut eines Insiders stammen, der über digitale Auswüchse und Gefahren exzellent Bescheid weiß. Seine Kritik muss ernst genommen werden und könnte uns im Hier und Jetzt bereits in eine tiefe Depression stürzen. Jedoch berechtigen politische Reaktionen zu gewisser Hoffnung. So konnte der neue Präsident des Europäischen Parlamentes, Martin Schulz (SPD), in seiner Laudatio auf den Preisträger dessen Steilvorlage elegant verwerten, indem er unter anderem den demokratischen Grundgedanken in unserem Gesellschaftssystem herausstellt. Danach sollten in Netzfragen auch diejenigen ein Mitspracherecht haben, die nicht zu den Netzpolitikern oder Netzaktivisten gehören. Denn inhaltlich geht es um dieselben gesellschaftlichen Probleme, die schon in der analogen Welt bekannt gewesen sind. Eine Trennung zwischen analoger und digitaler Welt gibt es eben nicht mehr. Dieses haben unsere Heranwachsenden – spielerisch – längst erkannt.

Schulz’ abschließender Appell ist eindeutig: "Wir müssen in unseren Bildungs-Curricula auf die Veränderungen reagieren, damit unsere Kinder die Vorteile des digitalen Zeitalters genießen können und nicht schutzlos in die Welt entlassen werden". Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen, da sich daran einmal mehr aufzeigen lässt, wie wichtig es ist, in zentralen Fragen unserer Gesellschaft von verschiedenen Seiten sinnvollen, ja korrigierenden Einfluss zu nehmen.

Und so mag all dies nicht zuletzt als Hintergrund für nachhaltige Eltern- und Patientenberatung hilfreich sein, um in unserer Alltagsarbeit (bei fast jedem über Zehnjährigen sieht man einen Smartphone-Abdruck in der Hosentasche!) möglichst mit noch mehr Nachdruck auf die Risiken einer fortschreitenden digitalen Revolution hinzuweisen und den dosierten, problembewussten Medienumgang immer wieder in den Vordergrund zu stellen. Maßgebliche Beiträge in diesem Publikationsorgan tun dies ohnehin seit Jahren immer wieder, sodass sich für detaillierte Anregungen ein Blick in verfügbare Online-Artikel des Kipra-Archives natürlich stets lohnt.



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Dr. Bernhard Sandner


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2015; 86 (1) Seite 6