Fast jedes vierte Kind in Deutschland lebt nach neuesten Zahlen in Armut. Deshalb sollte die Verringerung von Kinderarmut oberstes Ziel der Bundesregierung sein, wie sie es auch im Koalitionsvertrag festgeschrieben hat, fordert der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB).

Der Gesetzentwurf zur Entlastung von Familien greift allerdings deutlich zu kurz, kritisiert der DKSB. Denn Kinder aus ärmeren Familien gingen weitgehend leer aus. Damit vergebe die Bundesregierung die Chance, die Familienförderung neu auszurichten und entschlossen gegen Kinderarmut vorzugehen.

"Das Kindergeld und den steuerlichen Kinderfreibetrag anzuheben kostet den Staat viel Geld, bringt aber für Kinder in Armut unterm Strich nicht viel", kritisiert Heinz Hilgers, Präsident des DKSB. "Familien, die Hartz IV, Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen, gehen leer aus. Bei ihnen wird das erhöhte Kindergeld mit der jeweiligen Leistung verrechnet."

Damit geht die Schere zwischen Arm und Reich in der Familienförderung weiter auseinander. Hinzu kommt: Familien mit höherem Einkommen werden bereits jetzt über den Freibetrag um bis zu 100 Euro mehr entlastet als Familien der unteren und mittleren Einkommensgruppen über das Kindergeld. Für die Jahre 2019/2020 sieht der Gesetzentwurf vor, dass Familien mit unteren Einkommen über das Kindergeld insgesamt 180 Euro zusätzlich für beide Jahre erhalten. Familien mit sehr hohem Einkommen werden über den Kinderfreibetrag jedoch im gleichen Zeitraum um bis zu 273 Euro entlastet.

Kinderschutzbund fordert Kindergrundsicherung

Mehr Gerechtigkeit kann laut Hilgers nur eine Reform des Kinderzuschlags oder des Bildungs- und Teilhabepakets schaffen. Die beste Maßnahme sei es allerdings, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Im Bündnis Kindergrundsicherung fordert der DKSB gemeinsam mit 13 anderen Verbänden und 13 renommierten Wissenschaftlern eine am kindlichen Existenzminimum ausgerichtete Kindergrundsicherung von 619 Euro im Monat.

Heftige Kritik an der Politik gegen Kinderarmut übt auch Barbara Eschen, Sprecherin der Nationalen Armutskonferenz. "Seit Jahren steigen die Armutszahlen in Deutschland, obwohl die Arbeitslosigkeit sinkt. 3 Millionen Kinder und mehr als jede dritte Alleinerziehende leben in Armut. Die prekäre Beschäftigung ist auf dem Vormarsch. Es gibt genug Handlungsbedarf in der Armutsbekämpfung." Statt die wichtigen sozialpolitischen Themen anzupacken, zerlege sich die Union in der Frage, wie man Menschen in Not am besten abwehren kann, und die SPD sehe staunend zu.

Im Koalitionsvertrag sieht Eschen grundsätzlich dennoch einige Ansatzpunkte im Kampf gegen Kinderarmut. "Das Mittagessen in den Schulen soll für arme Kinder kostenlos sein, das Schulbedarfspaket solle erhöht werden. Statt an dieser Stelle mit einem Sofortprogramm für schnelle Hilfe zu sorgen, schiebt die Koalition Maßnahmen gegen Kinderarmut auf die lange Bank." Stattdessen wurde das Kindergeld erhöht und direkt auf Hartz IV angerechnet, so komme von der Hilfe bei den Hilfsbedürftigen nichts an.

Soziale Politik gegen soziale Verunsicherung

Eine weitere besondere Notsituation zeichnet sich auf dem Wohnungsmarkt ab. Immer mehr Menschen könnten sich die steigenden Mietkosten nicht mehr leisten, Menschen, die bereits in Armut leben, finden keine Bleibe oder werden von Mietwucher überrascht. Gerade auf dem Gesundheitssektor werde deutlich, dass Armut und Gesundheit eng verknüpft sind. Eschens Fazit ist ernüchternd: "Soziale Politik ist die beste Hilfe gegen soziale Verunsicherung. Es wäre an der Großen Koalition, das nun endlich deutlich zu machen."

Auch das Deutsche Kinderhilfswerk fordert von der Großen Koalition eine konsequentere Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland ein. Es müssen jetzt endlich die richtigen Prioritäten gesetzt werden, und da reichen die im Koalitionsvertrag von Union und SPD vorgesehenen Maßnahmen bei weitem nicht aus. Vordringlich hält das Kinderhilfswerk insbesondere armutsfeste Regelsätze, verstärkte Unterstützungsleistungen für Alleinerziehende sowie mehr Investitionen in schulische und vorschulische Bildung.

Zudem sei es dringend notwendig, das System der Familienförderung zu entbürokratisieren. "Viele Menschen verzweifelten an der Undurchsichtigkeit des Systems und beantragten ihnen zustehende Leistungen wie den Kinderzuschlag oder das Bildungs- und Teilhabepaket nicht, betont Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes. Bereits vor fast 2 Jahren hat der Bundesratsausschuss für Arbeit, Integration und Sozialpolitik grundlegende Kritik an der Berechnungsmethode der Regelsätze für Kinder und Jugendliche, der Höhe des Schulbedarfspakets und den unzureichenden Leistungen für Alleinerziehende geübt. Krüger: "Gerade durch die politische Kleinrechnung der Regelsätze wird armen Menschen in Deutschland das vom Bundesverfassungsgericht geforderte Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben in vielen Fällen vorenthalten."

Bisheriges Herumdoktern führt nicht weiter

Sozialexperten hatten unlängst ermittelt, dass die Bundesregierung durch das Herunterrechnen der Hartz-IV-Sätze jährlich 25 Milliarden Euro spare. Mit dem bisherigen Herumdoktern an Sonderbedarfen oder minimalen Erhöhungen des Regelsatzes komme man nicht weiter. Dringend notwendig sei vielmehr eine grundlegende Reform der Regelsatzberechnung unter Berücksichtigung der Prinzipien von Transparenz und Nachprüfbarkeit, fordert Krüger.

Grundsätzlich setzt sich auch das Deutsche Kinderhilfswerk für die Einführung einer bedarfsgerechten Kindergrundsicherung ein, die das Existenzminimum von Kindern unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie, der Familienform und dem bisherigen Unterstützungssystem gewährleistet. Außerdem plädiert die Kinderrechtsorganisation für ein Bundeskinderteilhabegesetz, das Kindern und Heranwachsenden aus Familien in prekären Lebenslagen einen besonderen Rechtsanspruch auf Förderung und Teilhabe gibt – gerade auch im Hinblick auf eine effektive Armutsprävention.

Raimund Schmid


Quellen
Deutscher Kinderschutzbund, Diakonie Deutschland und Deutsches Kinderhilfswerk

Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2018; 89 (5) Seite 357-358