Unter den mehr als 400 genetisch bedingten Syndromen mit angeborener Schwerhörigkeit ist das BOR-Syndrom ein klinisch gut erkennbares Krankheitsbild - ein Fallbeispiel.

Anamnese und Befund

Ein 3-jähriger Junge und seine 13-jährige Halbschwester werden zur Abklärung einer familiären Innenohr-Schwerhörigkeit sowie einer leichtgradigen Entwicklungsverzögerung vorgestellt. Die gemeinsame Mutter sowie die Großmutter mütterlicherseits sind ebenfalls schwerhörig.

In der klinischen Untersuchung (Abb. 1) weist der Junge eine Asymmetrie der tief angesetzten und kleinen Ohren (Mikrotie) auf. Zudem fallen beidseitig kleine Fisteln sowohl vor den Ohren (präaurikuläre Fisteln) als auch am lateralen Hals (branchiale Fisteln) auf. Bei der Halbschwester bestehen tief angesetzte und antevertierte Ohren. Das Mädchen weist eine etwa 0,5 cm breite Fistelöffnung am Hals rechts auf, aus der bereits mehrfach ein eitriges Sekret ausgetreten war. Sonographisch zeigte sich rechts zervikal in 5 mm Tiefe eine zystische Raumforderung in Nachbarschaft zu den großen Halsgefäßen. Aufgrund von wiederholt grenzwertig erhöhten Kreatininwerten im Blut erfolgte bei dem Mädchen zudem eine Sonographie der Nieren. Hierbei wurden eine hypoplastische linke Niere (15 ml) und eine kompensatorisch vergrößerte rechte Niere (45 ml) festgestellt. Harnwegsinfekte und Miktionsprobleme waren noch nie aufgetreten. Urinuntersuchungen waren bei beiden Kindern unauffällig. Die schwerhörige Mutter weist beidseitig tief angesetzte und antevertierte Ohren auf. Sie benötigt keine Hörgeräte im Alltag.

Familiäre Schwerhörigkeit mit Ohrfehlbildungen, präaurikulären Fisteln, Halszysten und Nierendysplasie – wie lautet Ihre Diagnose?

Lösung: BOR-Syndrom

Bei den Halbgeschwistern und der gemeinsamen Mutter liegt ein branchio-oto-renales (BOR) Syndrom vor. Charakteristisch für das BOR-Syndrom ist eine Kombination aus Halsfisteln oder Halszysten (B = branchial), Ohrfehlbildungen und Schwerhörigkeit (O = oto) und Nierendysplasie (R = renal). Zusätzlich können präaurikuläre Grübchen oder Fisteln, Fazialisparesen, Tränen- und Gehörgangstenosen, Gaumenspalten sowie angeborene Fehlbildungen des vorderen Augenabschnittes und Katarakte auftreten (Tab. 1) [1, 3, 4].

Das BOR-Syndrom kommt mit einer Häufigkeit von etwa 1:40.000 vor und wird autosomal-dominant vererbt [2]. Die klinische Ausprägung ist häufig extrem unterschiedlich, wie auch exemplarisch in der hier vorgestellten Familie (Abb. 1): Bei der Mutter liegt ausschließlich eine leichtgradige Innenohr-Schwerhörigkeit bei Ohrmuscheldysplasie vor (O von BOR-Syndrom). Sie benötigt keine Hörgeräte. Der betroffene Junge hat sowohl eine beidseitige Schwerhörigkeit mit asymmetrischer Mikrotie als auch präaurikuläre und branchiale Fisteln (BO von BOR-Syndrom). Das Mädchen weist das Vollbild eines BOR-Syndroms mit Schwerhörigkeit, Ohrmuscheldysplasie, großer branchialer Zyste und einseitiger Nierendysplasie auf.

Genetische Diagnostik

Durch eine molekulargenetische Untersuchung des EYA1-Gens wurde bei allen 3 in Abbildung 1 gezeigten Familienmitgliedern eine heterozygote Stopp-Mutation Arg308X im EYA1-Gen nachgewiesen.

Mutationen im EYA1-Gen finden sich bei etwa 40 % aller Patienten mit einem BOR-Syndrom (OMIM 113650). Das EYA1-Gen ist homolog zum "eyes absent" (eya) Gen in der Taufliege Drosophila, bei der Mutationen in diesem Gen zum Fehlen der Augen führen. Beim Menschen spielt das EYA1-Protein zudem eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Ohr, Kiemenbögen und Niere. Des Weiteren finden sich bei ca. 5 % der Patienten mit BOR-Syndrom Mutationen in den Genen SIX1 und SIX5 (sine oculis homeobox homolog 1 und 5), deren Genprodukte als Interaktionspartner des EYA1-Proteins bekannt sind [4].

Therapie, Verlauf und Empfehlungen

Bei dem 13-jährigen Mädchen mit BOR-Syndrom waren bereits mehrfach Entzündungen der Halsfistel mit Austritt eines eitrigen Sekretes aufgetreten, die eine antibiotische Therapie erforderten. Nach der Diagnosestellung erfolgte eine komplikationslose Exstirpation der Halszyste, des Fistelganges sowie der Tonsille rechts, da der Fistelgang unterhalb der rechten Tonsille endete. Zudem erhielt das Mädchen neue Hörgeräte mit FM (frequenzmodulierte Funksignal)-Anlage für Schulklassen sowie eine Hörförderung. Der Kreatininwert des Mädchens befindet sich derzeit im obersten Normbereich. Harnwegsinfekte oder eine Dysurie sind bislang nicht aufgetreten. Es erfolgen halbjährliche Vorstellungen zur audiologischen und nephrologischen Reevaluation.

Der 3-jährige Halbbruder besucht einen integrativen Kindergarten und erhält Logopädie sowie Hörfrühförderung. Seine leichtgradige globale Entwicklungsverzögerung ist vermutlich durch die Hörstörung mitbedingt. Erst nach der Diagnosestellung wurden beidseitig Hörgeräte angepasst. Sein Kreatininwert und wiederholte Urinuntersuchungen waren unauffällig. Sonographisch wurde eine Nierenfehlbildung ausgeschlossen.

Die Mutter kommt im Alltag ohne Hörgeräte aus. Eine Nierensonographie hat sie bislang nicht durchführen lassen. Die Familie wurde darauf hingewiesen, dass nephrotoxische Medikamente zu meiden sind.

Wesentliches für die Praxis . . .
  • Unter den mehr als 400 genetisch bedingten Syndromen mit angeborener Schwerhörigkeit ist das BOR-Syndrom ein klinisch gut erkennbares Krankheitsbild.
  • Wegweisend in der klinischen Untersuchung ist das Vorliegen von Ohrmuschelfehlbildungen und präaurikulären Grübchen in Kombination mit Halsfisteln bei schwerhörigen Patienten.
  • Da die klinische Ausprägung des autosomal-dominant vererbten BOR-Syndroms auch innerhalb einer Familie sehr variabel sein kann, ist die Suche nach den in Tabelle 1 zusammengefassten Symptomen bei allen betroffenen Familienmitgliedern wichtig.
  • Das klinische Follow-up von Patienten mit BOR-Syndrom umfasst regelmäßige audiologische und nephrologische Untersuchungen sowie ggf. chirurgische Entfernung von Fistelgängen, die zu rezidivierenden Entzündungen führen können. Nephrotoxische Medikamente sind zu vermeiden.

Literatur
1. Chang EH, Menezes M, Meyer NC, Cucci RA, Vervoort VS et al. (2004) Branchio-oto-renal syndrome: the mutation spectrum in EYA1 and its phenotypic consequences. Hum Mutat 23: 582 – 9
2. Fraser FC, Sproule JR, Halal F (1980) Frequency of the branchio-oto-renal (BOR) syndrome in children with profound hearing loss. Am J Med Genet 7: 341 – 9
3. Kochhar A, Fischer SM, Kimberling WJ, Smith RJH (2007) Branchio-oto-renal syndrom. Am J Med Genet 143A: 1671 – 8
4. Smith RJH. GeneReviews: Branchiootorenal Spectrum Disorders. Includes: EYA1-Related Branchiootorenal Spectrum Disorders; SIX1-Related Branchiootorenal Spectrum Disorders; SIX5-Related Branchiootorenal Spectrum Disorders. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK1380/


Korrespondenzadresse
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Birgit Zirn
Sozialpädiatrisches Zentrum
Abt. Pädiatrie II mit Schwerpunkt Neuropädiatrie
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Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2012; 83 (5) Seite 279-282