Ulrich Fegeler, Elke Jäger-Roman, Klaus Rodens (Hrsg.) 544 Seiten, 2017, 1. Auflage. Urban & Fischer in Elsevier Verlag, München. ISBN 978-3-437-21281-9; 82,- Euro

Der Anspruch des Buches ist hoch. Das wird schon im Vorwort gleich an 3 Stellen deutlich. So soll es sich um die erste deutschsprachige Zusammenstellung der spezifischen Themen und Aufgaben der medizinischen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen handeln. Das war dann wohl längst überfällig. Zudem soll es ganz bewusst kein Lehrbuch sein, sondern ein Praxishandbuch , das auf die wesentlichen alltäglichen und praktischen Fragen eingeht, mit denen alle Mediziner, die Kinder und Jugendliche behandeln, tagtäglich konfrontiert werden.

Wahrlich kein Ruhmesblatt für die bisher erschienen Lehrbücher in der Pädiatrie, die beim Tauglichkeitstest in der Praxis tatsächlich zumeist miserabel abschneiden. Um diese Ausrichtung auf die Praxis aber qualitativ hochwertig zu gestalten, sind alle Inhalte von erfahrenen Pädiatern oder Subspezialisten mit eigener Praxis, oder von Sozialpädiatern aus dem ambulanten Bereich oder von Sozialpädiatrischen Zentren beziehungsweise auch von Kinder- und Jugendärzten aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst – unter Berücksichtigung einschlägiger Leitlinien – verfasst worden.

Gliederung nicht nach Krankheiten, sondern nach Herausforderungen

Sicherlich insgesamt also ein schwieriger Spagat, den die drei Herausgeber des Praxishandbuchs aber souverän meistern. Vielleicht auch deshalb, weil sie ganz innovative Wege beschreiten. Dies fängt konzeptionell schon damit an, dass die Gliederung des Buches nicht nach Krankheitsbildern, sondern nach den Herausforderungen erfolgt, die sich in der pädiatrischen Grundversorgung im Alltag ergeben. Dabei wird unterteilt in "Akute Vorstellungsanlässe", "chronische Erkrankungen als Schnittstelle zwischen Grund- und Spezialversorgung", "Entwicklungs-, Verhaltens- und psychosomatische Störungen", aber auch in Kapitel wie "Jugendmedizin", "Gewalt gegen Kinder und Jugendliche" sowie "Notfälle". Die einzelnen Inhalte in den Kapiteln werden so aufbereitet, dass man nicht gleich – wie sonst in Lehrbüchern – von dem umfassenden Lehrbuchwissen erschlagen wird. Alles wird vielmehr in kleine Portionen verpackt und inhaltlich wie layouttechnisch lesefreundlich aufbereitet.

Alle Einzelthemen, zum Beispiel auch zu den Krankheitsbildern "Epilepsie, Zerebralparesen, Myopathien", beginnen mit der Darstellung eines Fallbeispiels und enden mit dessen Auflösung. Dadurch wird in jedem Beitrag geschickt ein gewisser Spannungsbogen aufrechterhalten. Im Weiteren erfolgt die Beschreibung des "Stellenwerts in der Grundversorgung" sowie – erfreulich kurz – die "Darstellung und Beschreibung" der jeweiligen Krankheitsbilder. Dem schließen sich dann die Teile "Diagnosen und Differenzialdiagnosen" und "Beratung und Behandlung" an.

Gerade dem Beratungsaspekt, der sonst in Lehrbüchern sträflich vernachlässigt wird, wird erfreulicherweise ein breiter Raum eingeräumt. So heißt es zum Beispiel in dem von Dr. Folkert Fehr verfassten Beitrag zur Epilepsie: "Oft fällt dem pädiatrischen Grundversorger die Aufgabe zu, die Übersicht zu behalten, wer im Netzwerk eines Kindes in welcher Weise aktiv ist. Dabei handelt es sich um Momentaufnahmen, da sich diese Netzwerke fortlaufend ändern, gewissermaßen fluide sind. Wenn diese Aufgabe mit den Familien geteilt werden kann, entsteht gemeinsame Realität, die es erleichtert, gemeinsam zu handeln." Genau das ist es, was viele Eltern nicht nur von chronisch kranken Kindern im medizinischen Alltag so häufig vermissen.

Merksätze und Handlungsempfehlungen

Bei dem von Ulrich Fegeler geschriebenen Beitrag "Sprachentwicklung anregen" wird eine weitere Stärke dieses Handbuches deutlich. Immer wieder werden im Beitrag farblich unterlegte Kästen eingestreut, die Zusammenhänge darstellen, plakative Merksätze beinhalten oder Handlungsempfehlungen geben. So heißt es zum Beispiel: "Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern sind nicht schwerer ausgeprägt als bei einsprachigen Kindern." Sozusagen als "Keep-Home-Message" heißt es weiter: "Es gibt keine Standardisierungen der frühen Sprachanregung, auch wenn hierzu zahlreiche Programme entwickelt wurden." Oder: "Was man als Sprache in das Kind hineinsteckt, kommt irgendwann als solche auch wieder heraus."

In dem Handbuch tauchen aber auch Unterkapitel auf, die man darin nicht unbedingt vermuten würde und die es weiter aufwerten. "Die Kinderechte im Alltag" etwa oder die "Medien- und Spielsucht oder das Cybermobbing." Sehr praxisrelevant ist auch der Text "Das Elterngespräch im Kinderschutzfall." Und dann nicht zu vergessen der Beitrag "Kultur: die Umwelt für Entwicklung" der Entwicklungspsychologin Heidi Keller, die uns folgenden Merksatz mitgibt: "Jede Kultur entwickelt ihre eigene Pathologien – auch unsere."

Da sich das Praxishandbuch bereits nach kurzer Zeit bei Ärzten der pädiatrischen Grundversorgung – insbesondere aus der Pädiatrie und der Allgemeinmedizin – seinen Markt erobert hat, könnte es vielleicht im nächsten Jahr eine 2. Auflage geben. Zu überlegen wäre dabei dann, vielleicht die ersten allgemeinen Kapitel über Rahmenbedingungen, Patientensicherheit, Entwicklungsaspekten, und Prävention, die auch in gängigen Lehrbüchern so ähnlich zu finden sind, ein wenig zu straffen oder im hinteren Teil des Buchers zu platzieren. Auch der eine oder andere Geburtsfehler – zum Beispiel der fast durchweg fehlende Hinweis auf Eltern-Selbsthilfevereinigungen – sollte behoben werden können.

Wenn also manche Geburtswehen noch überwunden werden können, wird dieses pädiatrische Standardwerk für die Praxis seinem hohen Anspruch noch besser gerecht werden können. Da es der Elsevier Verlag zudem ermöglicht, über einen Code im Buch unter paediatriewelt.de einen zeitlich begrenzten kostenfreien Zugriff nicht nur auf das Wissen im Buch, sondern auch auf darüber hinausgehende Inhalte zu erhalten, ist der Preis von 82 Euro auch wirklich jeden einzigen Euro wert!


Raimund Schmid, Aschaffenburg


Erschienen in: Kinderärztliche Praxis, 2019; 90 (2) Seite 140